Theater, Macht und Kindermord
Im Grunde ist es ein Skandal. Ungefähr 60 Mal hat die Truppe von belgischen Kindern um den Schweizer Regisseur Milo Rau die Produktion Five Easy Pieces schon gespielt. Sie war damit zum Berliner Theatertreffen 2017 sowie zu dessen Pendants in Belgien und in den Niederlanden eingeladen. In Berlin erhielt sie den 3sat-Preis für ihre „richtungweisende, künstlerisch-innovative Leistung“. Sie wurde in mehr als zwanzig Ländern gezeigt. Aber in Köln wurde sie zensiert. Im CarlsWerk, in unmittelbarer Nachbarschaft der Keupstraße, schien es, als hätte Recep Tayyip Erdogan die Kontrolle übernommen.
Dabei ist die inkriminierte Szene, die aufgrund einer Intervention der „medienpädagogischen Fachkraft“ des Amtes für Arbeitsschutz nur als Videoaufzeichnung eingespielt werden durfte und zu der die minderjährigen Schauspieler(innen) den Saal verlassen mussten, durchaus geeignet, kontroverse Diskussionen auszulösen. Die 9-jährige Rachel Dedain übernimmt in dieser Szene die Rolle der entführten, monatelang in einen lichtlosen Keller gesperrten und von ihrem Entführer und Peiniger Marc Dutroux sexuell missbrauchten Sabine Dardenne. Rachel wird aufgefordert, sich auszuziehen. Sie entkleidet sich bis auf den Slip und formuliert einen Brief der eingekerkerten Sabine an ihre Eltern – einen erschütternden Brief, in dem sie von ihrer Liebe, ihrer Sehnsucht und ihrem Leben im Keller schreibt. Explizit erzählt sie, wie der Vergewaltiger in sie eindringt, wie er sie auffordert, „Sex toll zu finden“. Sie berichtet von ihrem Wunsch, die Eltern wiederzusehen; gefasst setzt sie aber gleichzeitig eine Art Testament auf, in dem sie das Inventar ihres Kinderzimmers verteilt. Was Sabine in diesem (wohl aus Briefen mehrerer Entführungsopfer zusammengesetzten) Brief schreibt und wie Rachel diesen Text vorträgt, ist erschütternd, berührend – und unfassbar reif und erwachsen. Das Publikum hält den Atem an, kämpft vielleicht auch mit den Tränen – aber ein Schluchzen verbietet sich, wenn man die Stärke des jungen Mädchens erlebt. Im riesigen Depot 1 könnte man eine Stecknadel fallen hören. Und dann lässt der Moderator Peter Seynaeve, der einzige erwachsene Darsteller an diesem Abend, wie in jedem der „five easy pieces“, die an diesem Abend gespielt werden, die Spannung wieder raus. Die Kinder, die für die Dauer dieser siebenminütigen Passage den Raum verlassen mussten, kehren zurück auf die Bühne. Rachel ist ein wenig traurig, denn sie durfte heute ihre zentrale Szene nicht spielen.
Das Genter Produktionshaus CAMPO erarbeitet in regelmäßigen Abständen Theaterinszenierungen mit Kindern für ein erwachsenes Publikum. Damit wird jeweils ein renommierter Regisseur aus dem Ausland beauftragt, der bislang noch nicht mit Kindern gearbeitet hat. In Five Easy Pieces erarbeitet Milo Rau mit Jugendlichen im Alter zwischen 8 und 13 Jahren (mittlerweile sind sie alle ein Jahr älter geworden) ein Stück über den Fall des Kindermörders Marc Dutroux, der in den 1990er Jahren das gesamte Land traumatisierte. Es gibt Menschen, die behaupten, der Fall Dutroux sei das einzige Ereignis in der Geschichte der kulturell zerrissenen, zutiefst gespaltenen belgischen Nation, das so etwas wie ein kollektives nationales Bewusstsein hervorgerufen habe. Weit ausholend, ordnet Rau den Fall daher in die belgische Geschichte ein – beginnend mit der Befreiung des Kongo von der belgischen Kolonialherrschaft im Jahre 1960 und der Übergabe der Macht auf den ersten kongolesischen Ministerpräsidenten Patrice Lumumba. Und tatsächlich scheint alles mit allem zusammenzuhängen: Lumumba wird später von Belgiern gekidnappt, gefoltert und erschossen; Marc Dutroux wiederum hat seine ersten Lebensjahre noch zu Kolonialzeiten im Kongo verbracht. Die Inszenierung versucht, Verbindungslinien zwischen diesen Fakten zu ziehen, hat Dutroux‘ Vater Victor aufgespürt, einen alten, gebrechlichen, widersprüchlichen Mann, den wir per Video eingeblendet und dann täuschend ähnlich und ungeheuer intensiv von dem 14jährigen Maurice Leerman gespielt sehen: Victor Dutroux fragt sich, ob er Marc als kleines Kind genügend „geknuddelt“ habe. Die Ansätze von Selbstvorwürfen werden dann doch wieder unglaubwürdig: Dutroux hat den Kontakt zu seinem Sohn nach seiner aufgrund diverser Verhältnisse zu Kongolesinnen gescheiterten Ehe verloren und nie wieder aufgenommen.
Die Geschichte von Vater Victor Dutroux ist so einfach wie vielschichtig. Und genauso einfach wie vielschichtig ist Milo Raus Theaterabend: Er ist einfach in der Sprache, aber von großer Komplexität im Hinblick auf seine Struktur, seinen Inhalt und seine Psychologie. Rau versteht sein Stück auch als Parabel über die Freiheit, die er auf der großen politischen Ebene (Kolonialismus) ebenso verhandelt wie auf der kleinen privaten: nämlich der der Kinder gegenüber ihren Eltern. Die wunderbare 14jährige Elle Liza Tayou, die ein so souveränes Lächeln hat, gibt den Freiheitskämpfer Lumumba auf der Unabhängigkeitsfeier: „Jetzt beginnt die Zeit der Freiheit und des gegenseitigen Verständnisses.“ – Der nicht minder wunderbare 11jährige Willem Loobuyck antwortet auf die Frage, was er unter Freiheit verstehe, er sei ja nicht wirklich frei, denn er sei noch davon abhängig, was seine Eltern erlauben. Willem hat einen gewissen Hang zum Klassenclown und zur Selbstdarstellung, berichtet aber im nächsten Moment mit großer Ernsthaftigkeit und ungeheurer Suggestionskraft von der Aufdeckung der Dutroux-Verbrechen und vom Auffinden der wenigen bei dessen Verhaftung noch lebenden Mädchen. Es ist die dritte, ganz klassische Form von Freiheit, die diesen Mädchen genommen wurde.
Die vierte, ebenfalls ganz explizit ausgestellt, ist die Unfreiheit der Schauspieler: Winne Vanacker bringt das auf den Punkt: „Theater ist wie Puppenspiel, nur mit echten Menschen statt Marionetten.“ Damit gelangt der Regisseur zu einem weiteren großen Thema seiner Aufführung: Neben der Verarbeitung des Dutroux-Falls und dem Nachdenken über die Freiheit ist Five Easy Pieces eine Reflexion über das Theaterspiel. Es dürfte diese Facette sein, die es den Kindern und ihren von Beginn an in die Arbeit einbezogenen Eltern ermöglicht hat, sich dem grausamen Thema zu nähern. Selbstverständlich haben die Kinder einen sorgfältigen Casting-Prozess durchlaufen. Dieser Casting-Prozess, geleitet von Peter Seynaeve, wird in gekürzter und zugespitzter Form vorgeführt. Dabei lernen wir die Kinder kennen – für die Kinder sind es Lockerungsübungen. Küssen ist ein heikles Thema für pubertierende Jugendliche, und so diskutieren Seynaeve und die Kinder über die Frage, wie es sich mit dem Küssen oder dem Schießen auf der Bühne verhält: „Bin ich es, der küsst oder schießt, oder ist es der Schauspieler?“ Mit solchen Mitteln tastet sich die Aufführung an das Thema der Distanzierung von ihrem erzählerischen Subjekt heran. Rau leugnet nicht, dass es sich bei der Arbeit mit Schauspielern, besonders aber mit Kindern auf der Bühne stets um Drill und Dressur handelt. Krass, wenn auch meist liebevoll wird vorgeführt, dass die Kinder-Schauspieler nichts als Machtobjekte ihres Regisseurs sind. Wiederholte Korrekturen seitens des Casting-Direktors sind eingeübt und wiederholen sich jeden Abend. Hier handelt es sich noch um eine recht vordergründige Machtausübung. Wenn Rachel in der eingangs beschriebenen Szene ohne Umschweife aufgefordert wird: „Zieh dich aus“, nähert sich die Aufführung subtil dem Machtverhalten des pädophilen Kindermörders an. In einer der umstrittensten Szenen wird Pepijn Loobuyck hart angegangen, weil er (angeblich) nicht weinen könne. Er muss coram publico das Weinen üben über einen Fall, der ein ganzes Land zum Weinen gebracht hat. Auch das wirkt irgendwie erniedrigend – und rührt an. Theater, so hat die belgische „Theaterkrant“ erkannt, sei „die Manipulation des Publikums durch Schauspieler, die ihrerseits vom Regisseur manipuliert werden.“ Das sei „eine kraftvolle Metapher für die Affäre Dutroux.“
Die Aufführung ist eine Wucht. Sie ist hochintelligent, komplex, einfühlsam, in Teilen humorvoll, in Teilen konfrontativ. Sie ist nachdenklich und spielerisch, schwer und leicht zugleich. Sie geht nahe, ist in Teilen kaum aushaltbar und öffnet die Herzen der Zuschauer für die grandiosen belgischen Kinder. Im letzten der „five pieces“, in dem die Beisetzung der toten Mädchen gezeigt wird und in einfachen Worten der Inhalt des Pasolini-Kurzfilms Was sind die Wolken? resümiert wird, ist die Aufführung hochpoetisch. Ein belgischer Regisseur, sagt Peter Seynaeve in der anschließenden Publikumsdiskussion, hätte sich wohl niemals an das Tabu-Thema des Dutroux-Falles herangewagt. Aber Milo Rau und sein Team sind sehr sensibel vorgegangen. Der Fall ist für die Kinder, die zum Zeitpunkt der Verhaftung von Dutroux maximal im Vorschulalter waren, einfach nur Geschichte. Persönliche Betroffenheit wie bei ihren Eltern, die sich selbst, ihren Staat und ihre Identität mit diesem Fall verknüpft sahen, ist bei ihnen nicht zu spüren. Die Theatermacher haben alles getan, um das Risiko einer Traumatisierung durch die intensive, jahrelange Beschäftigung mit den psychisch, physisch und sexuell grausamen Vorgängen auszuschalten. Sie standen und stehen noch in regelmäßigem Kontakt zu den Eltern; Kinderpsychologen haben den gesamten Probenprozess begleitet und sind in jedem Land bei jeder Aufführung anwesend. Man reagiert auf sich im Laufe der körperlichen und seelischen Entwicklung verändernde Schamgrenzen der Kinder. Dennoch bleibt die Aufführung, wie ein Blick in die sozialen Netzwerke oder in die Diskussionsspalten bei nachtkritik.de zeigt, umstritten. Dabei zeigt sich, dass die radikalsten Kritiker die Aufführung gar nicht besucht haben. Das gilt auch für die „medienpädagogische Fachkraft“ in Köln, die Rachels Brief-Szene verboten hat: Die Entscheidung wurde auf Basis eines Videos der Aufführung getroffen. In Frankfurt wurde die Aufführung unter dem Vorwand verboten, die Kinder hätten die zulässige monatliche Arbeitszeit überschritten. In München musste die kleine Rachel ihr Unterhemd anbehalten. Und in Singapur glaubte man, anstelle der Kinder die Erwachsenen schützen zu müssen: Man gab die Aufführung erst für Zuschauer ab 18 Jahren frei.
Aber an die sechzig Male wurde die Aufführung in der ursprünglichen Form gespielt und von den Zuschauern gefeiert. Wer eins und eins zusammenzählen kann, weiß: Bei der 61. Wiederholung ist die Gefahr einer Traumatisierung kaum noch existent. Auch der Fahrer des Notarztwagens ist irgendwann immun gegen die Schocks, die er an der Unfallstelle erleiden könnte. Einzelne Vorstellungen oder auch Teile davon nach mehr als 60 Gastspielen in zwanzig verschiedenen Ländern zu untersagen, zeugt von Hybris und Borniertheit der Entscheidungsträger. Es ist eine Bevormundung, gegen die der Veggie Day der Grünen eine Lappalie war. Wehren wir uns gegen die Zensur in Köln! Rachel war einfach nur traurig.