Übrigens …

Dorthin wo Milch und Honig fließen im Köln-Kalk

Nackt ohne Paradies

Eine Stadtführung durch Köln-Kalk. Warum gerade Kalk, fragst du dich, besonders, wenn du Köln gut kennst. Mit Audiogerät und Kopfhörern wirst du losgeschickt. Eine Stimme leitet dich durch versteckte Idyllen, merkwürdige Orte und Stadtteilinstitutionen. Und dir wird eine Geschichte erzählt. In meinem Fall von Rajana, geflüchtet aus Somalia, sieben Jahre lang über Äthiopien, Sudan, Libyen, Tunesien und Sizilien, schließlich nach Köln. Eine erschütternde Geschichte. Weil du dir nicht vorstellen kann, dass es einen Menschen geben kann auf dieser Welt, der so wenig weiß. Der nicht einmal weiß, was ein Ausweis sein könnte. Der glaubt, irgendwo hinter dem Sudan gehst du durch eine Tür oder über eine Straße und bist in Europa. Und da wird alles gut. Und nicht mal eine Vorstellung hat, wie das gehen könnte, gut werden. Vielleicht Arbeit haben und davon leben können, einen Platz haben, wo es ungefährlich ist, einzuschlafen. Als Rajana fünf Jahre alt ist, fällt ihre Familie einem Raketenangriff zum Opfer. Sie kommt in eine Pflegefamilie, die sie ausbeutet, versklavt, viele Male vergewaltigt. Sie darf in keine Schule, läuft irgendwann weg, lernt einen Mann kennen, der ist wie sie. sie wird Muslima. Gemeinsam fliehen sie, werden immer wieder inhaftiert, versklavt, misshandelt. In Tunesien sind die Lager überfüllt. Die UNHCR gibt ihnen 1200 Dollar um sich eine Existenz aufzubauen. Sie investieren das Geld in Schlepper. Auf der Schiffsüberfahrt, inzwischen mit einem kleinen Kind, sterben ein Drittel der Passagiere. Rajana und ihre Familie sitzen oben. Sie überleben. Für meine Ohren hört sich das an wie absurdes Theater. Und ich verstehe etwas. Rajana flieht nicht vor politischer Verfolgung, natürlich aus humanitären Gründen, aber eigentlich läuft sie weg vor dem Nicht-Leben, davor kein Mensch zu sein, sondern nur ein Hindernis, eine Geldquelle, eine Bedürfnisbefriedigung. Sie flieht zu einer Würde. Und die soll es in Europa geben, heißt es wohl in Afrika.

Und warum muss ich durch Kalk laufen, während mir diese Geschichte erzählt wird? Es gibt hier geeignete Plätze, um inne zu halten, wie die Pflanzstelle, ein Gemeinschaftsgarten in einer Industriebrache, oder einen unscheinbaren Mini-Park in einer Art Hinterhof. Hier liest du auf Zetteln Dilemma-Situationen flüchtender, sich schleppen lassender Menschen und wirst aufgefordert, Entscheidungen zu treffen. Und eine schöne, dunkelhäutige Frau singt a cappella „Ombra mai Fu“ aus Händels Xerxes, ein sehnsuchtsvolles Loblied auf eine Platane. Die Ironie haut dich um – und die Frau ist für dich zumindest für einen kurzen Moment automatisch Rajana. Und du möchtest gern mit ihr reden. Aber sie ist es natürlich gar nicht. Und du sagst auch nichts. Du gehst in eine Moschee und wirst in Gebetsriten eingewiesen, du trinkst afrikanische Limonade in einem kleinen Laden, du triffst jemanden von einer Organisation, die versucht, Flüchtlingen zu helfen. Je länger du zuhörst, desto reicher und paradiesischer kommt dir dieser teils schlimm verfallene, von vielen Migranten und vielen sozial schwachen Menschen bewohnte Stadtteil vor. Und das, obwohl Rajanas Erzählung ganz sachlich erzählt wird, mit fast amtlich klingenden Mittelklasse-Vokabular, als episch-dramatisches Navi.

Dann lässt Multikulti seine sonnige Seite leuchten. Auf einem Platz unter Bäumen trommelt Abdullah. Er ist Lehrer aus Syrien und hat in 18 Monaten hier umwerfend gut Deutsch gelernt. Er erklärt uns seine Percussionsinstrumente, macht mit uns Musik und studiert einen syrischen Tanz ein, wobei sich die Frauen besser und mutiger anstellen als die Männer. Abdullah sagt, das wäre überall auf der Welt so. Und er hat wohl recht, aber ich kein schlechtes Gewissen, dass ich mich hinter einer Trommel verschanzt habe. Schließlich gibt es noch ‚richtiges‘ Theater. Im Bürgerhaus spielen vier Schauspieler die Anhörungen der vier Geflüchteten - neben Rajana der Junge Burhan aus Afghanistan, der Musiker Sami aus dem Irak und die Innenarchitektin Halima aus Syrien – in Form von Boxkämpfen. Eine grandiose Idee, präzise, frei, individuell abgestuft umgesetzt. Ausklang ist dann in einer italienischen Bar. Du kannst reden, mit den Künstlern und den anderen Zuschauern, über das, was du allein gehört und gesehen hast, zwei Stunden lang in Köln – Kalk. Und du nimmst es mit nachhause. Und hast vielleicht was gelernt. Oder das kommt noch.