Ballade vom radikalisierten Rosshändler
Vögel zwitschern. Michael Kohlhaas lächelt selig und nuckelt mit dem Strohhalm an einem Smoothie. Wie eine Tischlampe hängt ein kleiner Computerbildschirm über seinem Schreibtisch. Es gluckert: Der Bildschirmschoner zeigt Quallen. Ist dieser Kohlhaas ein Mann von heute? – Er wird im Rottstr 5 Theater zu Bochum von Marco Massafra verkörpert - in einer nur knapp 80minütigen Solo-Show. Massafra setzt sich auf den Schreibtischstuhl, dessen Sitzfläche die Anmutung eines Pferdesattels hat. „An den Ufern der Havel lebte um die Mitte des 16. Jahrhunderts ein Rosshändler namens Michael Kohlhaas, einer der rechtschaffensten … Menschen seiner Zeit. … Das Rechtgefühl … aber machte ihn zum Räuber und Mörder.“
Massafra spricht Heinrich von Kleist - und nuckelt weiter am Smoothie. Er ist einer der prägenden Schauspieler am Schauspielhaus Bochum, aber er ist auch dem „coolsten Off-Theater im Ruhrgebiet“ (Rheinische Post) als Regisseur und Schauspieler verbunden. Jetzt liefert seine Schauspielhaus-Kollegin Therese Dörr am Rottstr 5 Theater ihre erste Regie-Arbeit ab. Gemeinsam mit ihrem Solisten bringt sie eine nur milde Aktualisierung der Kleist’schen Novelle auf die Bühne. Aber Computerbildschirm und Zeitgeist-Getränk zeigen, worauf sich Dörr und Massafra fokussieren: Sie stellen die Frage, ob nicht auch heute einem gutgläubigen, aber etwas naiven Menschen durch die Willkür einer wie auch immer gearteten Obrigkeit Gewalt angetan werden kann und wie solche Willkür im Extremfall die Radikalisierung junger Menschen befördert. Während die personenstarke, kraftvolle und wuchtige Inszenierung des gleichen Stoffs durch den ehemaligen Bochumer Intendanten Matthias Hartmann am Düsseldorfer Schauspielhaus vor allem in ihrem mitreißenden Mittelteil die rohe Gewalt der mordenden und brandschatzenden Kohlhaas’schen Privatarmee in den Vordergrund rückt, bleibt Therese Dörrs Inszenierung in weiten Teilen bei dem Unrecht, das dem Protagonisten der Erzählung angetan wurde. Der Widerstand des Pferdehändlers gegen die in diverse Amigo-Affären verstrickte politische Führung und den ihn willkürlich schikanierenden Junker Wenzel von Tronka wirkt ohnmächtiger als in Düsseldorf. Doch am Schluss wird Kohlhaas triumphieren.
Mord und Brandschatzung finden in der Bochumer Bahndamm-Höhle natürlich dennoch statt. Massafra macht ein herausragendes Kopfkino daraus. Er gibt den Erzähler – zum weit überwiegenden Teil auf Basis des Original-Kleist-Textes –, und er spielt alle Rollen des vielschichtigen, hin und herwogenden Stückes. Er ist der Naive zu Beginn, dann der Märchenerzähler, der Wütende, der Verletzte, der leicht schwul angehauchte Tronka. Der Ketzer und der Gottesfürchtige, der Gewaltverherrlichende und der Harmoniebedürftige. Mit nur kleinen Veränderungen in seiner Gestik und Stimme, aber ungeheurer Suggestionskraft gibt Massafra die Kurfürsten, die Adligen, die pucklige Verwandtschaft des Tronka, den Martin Luther. Der knappe Besetzungszettel zeigt in einem Diagramm die vielfältigen Beziehungen der umfangreichen Personnage der Novelle untereinander auf. Ungefähr genauso lange wie die Aufführung würde das Studium dieses Diagramms währen, wollte man es in allen Einzelheiten verstehen und memorieren können. Massafra aber gelingt es im Handstreich, die komplexen Zusammenhänge deutlich zu machen – allein durch seine Sprache, allein durch sein nahezu minimalistisches Spiel.
Ähnlich minimalistisch erscheinen vordergründig auch die inszenatorischen Mittel, deren sich Therese Dörr bedient. Als Kohlhaas zu seinem ersten Rachefeldzug gegen die Burg des Junkers von Tronka aufbricht, zeigt der winzige Bildschirm, der höchstens die Dimension der Leuchtfläche einer Leselampe hat, ein aufziehendes Gewitter. Der Sound dazu schwillt an, wird eher gruselig denn bedrohlich – Kleist als Katastrophen-Junkie könnte ja auch mit den Mitteln eines Grusel-Films arbeiten. Das Licht wird abgedunkelt – es bleibt warm, aber düster und dräuend. Der Protagonist erlässt sein „drittes Kohlhaasisches Mandat“ – als „Statthalter Michaels des Erzengels“: Welche Hybris! Massafra schraubt sich auf seinem Schreibtischsattel in die Höhe. Dann wieder gibt es Waldesrauschen und Vogelzwitschern – es mag die Naturverbundenheit von Kohlhaas versinnbildlichen oder auch seine innere Sehnsucht nach Harmonie und Gerechtigkeit.
Eine Zeitlang mag man in Bochum die Wucht und die Dynamik der Düsseldorfer Aufführung vermissen. Wenn Massafra die „provisorische Weltregierung“ auf dem Schloss zu Lützen aufruft, wenn seine Truppen zu plündern und zu morden beginnen, scheint Massafra die Kraft und die Aufmüpfigkeit des Kohlhaas zu unterspielen, die durch die massiven Verletzungen seines Selbstwertgefühls und den gesteigerten Rachedurst nach dem Tod seiner Frau hervorgerufen wurden. Doch in der kleinen szenischen Erzählung – als mehr kann man Dörrs Inszenierung kaum bezeichnen – gelingen Massafra virtuose Momente und eine kontinuierliche Steigerung der Spannung. Ungewöhnlich großen Raum nimmt in der stark gekürzten Textfassung die Geschichte von der Zigeunerin und dem Amulett, das diese dem Kohlhaas aushändigt, ein. Allzu leicht tut man diese als Schwachpunkt der Novelle und überflüssigen Appendix ab. Das Amulett beinhaltet eine Prophezeiung über den Fortbestand und die Zukunft des sächsischen Kurfürstengeschlechts. Dem kinderlosen Kurfürsten von Sachsen erscheint die Kenntnis dieser Prophezeiung als geradezu lebenswichtig: Es geht um Macht. Und Macht empfindet nun auch Kohlhaas, der im Besitz des Amuletts ist: „Du kannst mich auf das Schafott bringen. Ich aber kann dir wehtun und ich will’s“, sagt er zum Fürsten. Er schlägt ein Angebot auf Begnadigung aus und kostet die Macht des kleinen Mannes aus: Der Kurfürst wird zum Bittsteller.
Die Intensität, mit der Massafra die Dramatik dieser Szene und die Verzweiflung des Kurfürsten ausspielt, ist mitreißend. Kohlhaas triumphiert; Massafra verschafft ihm ein Happyend: Er landet wegen Landfriedensbruchs aus dem Schafott, aber ihm widerfährt Gerechtigkeit. Nicht nur, weil der Junker von Tronka zu zwei Jahren Haft und zur Wiederherstellung der Gesundheit der von ihm misshandelten Kohlhaas’schen Rappen verurteilt wird, sondern weil er der politischen Elite gezeigt hat, was eine Harke ist. Er hat den Zettel mit der Prophezeiung aufgegessen. Und ihm, nicht dem Kurfürsten ist der Nachruhm. Außerdem hat er, nicht der Kurfürst die Nachkommen. Der Kurfürst von Sachsen bleibt ohne Erben, „vom Kohlhaas aber haben noch im vergangenen Jahrhundert … einige frohe und rüstige Nachkommen gelebt.“ – Da kann man doch selig am Smoothie nuckeln.