Islamismus ein Phänomen der Pop-Szene?
Einlass durch den Bühneneingang. Der Zuschauerraum abgesperrt. Die Bühne in eine Disco verwandelt: mit wummerndem Beat empfängt ein DJ unter üppiger Goldperücke (Marco Schretter) die Zuschauer, für die es nur ganz wenige Sitzkisten gibt, alle anderen müssen stehen oder sich auf den Boden hocken. In der Mitte zwei Podeste, auf denen später die Erinnerungsszenen ablaufen werden. Zunächst erscheinen erst zwei, dann drei, vier Figuren in buntgescheckten Jeansanzügen, tanzen, amüsieren sich, scheinbar ganz normale Jugendliche. Scheinwerfer bestrahlen den Raum rot, blau, grün, gelb: wir alle befinden uns ja im Club und dieser Club, so erfahren wir bald, das ist der Kopf des Helden des Stücks und was immer sich hier abspielen wird, sind seine Gedanken und Erinnerungen.
Dann taucht er auf: Hamid (etwas uninspiriert: Paul Jumin Hoffmann), der neunzehnjährige radikalisierte Dschihadist. In langem weißlichen Mantel mit dazu passender Kappe wirkt er so gar nicht bedrohlich und doch kommt er, um in einer Stunde, um Mitternacht, einen Ungläubigen zu töten. Aus den netten, tanzenden Jugendlichen werden plötzlich „Brüder“, Brüder im Geiste ihres Fanatismus. Sie alle sind sich ihrer Sache sicher: wer nicht denkt wie wir, ist vom Teufel verführt, ist ein Feind und muss vernichtet werden. Heute soll es der Leiter des Jugendclubs sein, der ihnen wegen ihrer Radikalisierung Hausverbot erteilte. Da mischen sich persönliche Kränkung und Ideologisierung bedenklich miteinander und der „Auftrag Gottes“ entbehrt nicht ganz privater Ressentiments.
Die Tat wird durchgespielt: Tayfun (Bernhard Schmidt-Hackenberg), das ausersehene Opfer, das Musik, Tanz und Filme in seinem Club zulässt, wird wegen seines „lauen“ Islam zum „Ketzer“ und „Feind“ erklärt und soll dafür „in Notwehr“ erstochen werden. Hamid soll die Tat ausführen, um zu beweisen, dass er „fest im wahren Glauben ist“.
Nach dieser konkreten Vorbereitung folgen die von den Mitspielern temperamentvoll und gut gelaunt erspielten Erinnerungsszenen: Kindheit, erste Liebe, Streit im Jugendclub. Und da tritt auch Tayfun auf. Die Gelegenheit, Gegenargumente zu formulieren, hätte sich hier geboten, wird aber nicht wirklich genutzt. Stattdessen wiederholen sich die vorgeformten Paradies-Erwartungen der Islamisten. Und selbst die kurze Verunsicherung, die eintritt, als der Einpeitscher behauptet, die ganze Familie des Attentäters käme ins Paradies, aber dafür keine Koranstelle zu nennen weiß, wird nicht genutzt. Ein „Widerstreit in Kopf und Herz“, den das Programmheft für Hamid behauptet, findet nicht statt. Weder im Text noch in der Interpretation des Protagonisten ist irgendwo eine Verunsicherung spürbar, weder Angst noch Zweifel werden erspielt. Ungereimtheiten der Heilsversprechungen bleiben unwidersprochen. Eine Begründung der Radikalisierung findet nicht statt, alles ist für diese Verführten schon entschieden, seit sie irgendwann einmal eine bestimmte Moschee besuchten. Und darin liegt eine bedauerliche Schwäche sowohl des Stückes als auch der Inszenierung.
„Die Bilder meiner Tat werden um die Welt gehen“, brüstet sich Hamid und dann wird in der letzten Szene das gesamte zu erwartende Szenario noch einmal im Konjunktiv durchgespielt: der Mord, danach die Trauerfeier, die von einem (plötzlich ernannten) Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt würde. Da tun dem sonst so emotionslosen Hamid seine Verwandten, die unter den Opfern wären, denn doch ein wenig leid. Seine Devise lautet allerdings: „Es ist besser, die Familie zu verlieren, als die Seligkeit.“ Ob es dann wirklich zu der Tat kommen wird, bleibt offen.
So verlässt am Ende der potentielle Märtyrer als Superstar den Club und seine von dumpfem Dröhnen überlagerte Atmosphäre, gegen die die Schauspieler 90 Minuten lang ansprechen mussten. Und das taten sie mit Bravour und dynamischer Spiellust.
Die Zuschauer applaudieren für anregendes, spritziges Schauspielertheater; tatsächlich mitgenommen, als Clubbesucher, fühlen sie sich indes wohl nicht.
Das Stück Paradies ist aus einem internationalen Autorenprojekt hervorgegangen und beruht nach Aussage der Autoren auf intensiver Recherche zur Jugend-Radikalisierung. Dass dabei die Behauptung „Islamismus ist Pop“ herauskommt, ist schwer nachvollziehbar.