Im Schatten der Pistole
Es geht ganz klassisch los: mit den „zwei Häusern, gleich an Rang und Stand hier in Verona“. Doch schon nach nur einer von den vier Strophen, die Shakespeare seinem meistgespieltes Stück vorangestellt hat, bricht Lorenzo-Darsteller Jürgen Roth den Prolog ab, springt mitten hinein in die erste Szene und zitiert die erbosten Bürger, die den Dauerstreit der beiden Adelshäuser satt haben: „Schlagt auf sie los! Weg mit den Capulets! Weg mit den Montagues!“
Aber hat wirklich jemand an dieser Stelle ein komplettes Sonett erwartet? Was überhaupt erwartet der bildungsbürgerliche Abonnent von diesem Stück? Die Balkonszene? Oben eine hübsche Julia, idealer Weise im Renaissance-Kostüm, unten ein Romeo, der hinaufschmachtet, natürlich in der romantisch-schönen Schlegel-Übersetzung?
Und was bekommt der erwartungsfrohe Besucher vom Detmolder Schauspieldirektor Martin Pfaff und seinem Team vorgesetzt? Eine Rotzgöre (Nicola Schubert), die gerne mal heimlich eine Zigarette raucht und Schnaps von der Amme schnorrt, im Outfit - Bomberjacke überm Minikleidchen - irgendwo zwischen Lara Croft und Pippi Langstrumpf, fläzt sie sich vorne, an der Rampe auf dem Boden. Und Romeo (Lukas Schrenk) turnt oben rum. Oben - nein, nicht auf dem Balkon, sondern auf der Pistole.
Auf welcher Pistole? Auf der Pistole, die das Bühnenbild beherrscht, besser: das Bühnenbild ausmacht. Denn außer dieser übermannshohen Pistole gibt es nichts. Die einzige Abwechslung: vor der Pause sieht der Besucher die Pistole seitlich, im Profil. Danach ist die Mündung drohend Richtung Zuschauerraum gerichtet.
Ja, Pfaff & Co. machen‘s dem Bildungsbürger nicht einfach! In diversen Gesprächen mit Premierenbesuchern hörte ich immer nur: Ablehnung. Dazu passt, dass nach der Pause so mancher Sitz leer blieb, sowie der nicht gerade frenetische Schlussbeifall.
Doch was ist dieser Inszenierung tatsächlich vorzuwerfen? Meine Pausengesprächspartner beklagten nicht zuletzt die „Obszönitäten“, die beispielsweise den Maskenball prägten. Klar, das mag für uns Deutsche ungewohnt sein, die wir Romeo und Julia vor allem in der betulich-verharmlosenden Schlegel-Übersetzung kennen. Jedoch hat Shakespeare, dieser bis heute unübertroffene Meister der komischen Tragödie, der tragischen Komödie, sich immer einen Spaß daraus gemacht, seine Texte mit (eher ein- als zweideutigen) Wortspielen und Kalauern (gerne aus der unteren Schublade) zu spicken; und gerade in dieser Liebestragödie lässt Shakespeare heftigst ferkeln und sauigeln – was Schlegel weggelassen hat (mit der wohlfeilen Ausrede, die Wortspiele seien unübersetzbar).
Da ist es nur verdienstvoll, wenn Pfaff den „klassischen“ Schlegel-Text durch die moderne und hervorragende Übersetzung Frank Günthers ergänzt hat, welcher eine besondere Leidenschaft (und ein Händchen) für die Übertragung gerade solcher Wortspiele hat: So bekommen wir den authentischeren Shakespeare! - Umso unverständlicher ist die zimperliche Prüderie, wenn dieses Liebespaar aller Liebespaare seine Hochzeitsnacht bekleidet mit braver Baumwollunterwäsche absolviert! Im Publikum reagierte man mit Kichern, und selbst die würdige Dame in der Reihe hinter mir spottete: „Hach - wie keusch!“
Nein - niemand braucht sich diesem dauerhustenden Detmolder Publikum nackt zu präsentieren. Aber es sollte doch zum kleinen 1x1 eines Regisseurs gehören, eine solche Szene hinzukriegen, ohne sich selbst und - schlimmer - seine Darsteller der Lächerlichkeit preiszugeben!
Und die vielkritisierte Pistole? Symbolisiert die Sicht des Regie-Teams auf das Stück und auf diese unsere Welt. Denn tatsächlich agieren die Liebenden ja vor einem gesellschaftlichen Hintergrund, der geprägt ist „von Gewalt, Macht und Sex“, wie Dramaturgin Marie Johannsen konstatiert, die dieses harsche Urteil auch gleich aus Shakespeares Text heraus begründet: sich bekriegende Familien-Clans, mit geradezu mafiösen Strukturen, Mord und Totschlag auf offener Straße, übergriffige Kerle. Einmal mehr zeigt sich, dass ein Gesellschaftsbild, wie es das Genie aus Stratford upon Avon vor 400 Jahren gemalt hat, auch heute noch (wieder) das passende Ambiente für einen zeitgenössischen „phantastischen Thriller“ (Johannsen) liefern kann.
Nach den politischen Umwälzungen der letzten Jahre, angesichts der Erosion von sicher geglaubten Werten wie Aufklärung, Diskurs, Toleranz; nach „dem Wieder-Aufschäumen der Barbarei“ auch in Europa sieht Pfaff in dieser Tragödie - mit Recht - „ein total heutiges Stück“.
Dementsprechend macht Bühnen- und Kostümbildner Mathias Rümmler „Anleihen bei der heutigen Politik“, nicht nur in Form der Pistole (welche die Waffe mit verknotetem Lauf vor dem UNO-Hauptquartier quasi zurücknimmt), sondern auch durch seine Personen: Der Chef des Capulet-Clans ist unverkennbar als Donald Trump (Holger Teßmann) ausstaffiert, inklusive junger Model-Gattin (Marie Luisa Kerkhoff) als Trophäe; der gewalttätige Tybalt (Stephan Clemens) erinnert zumindest ein bisschen an Kim Jong Un. Besonders viel Mühe hat man sich mit der Fürstin gegeben (Kerstin Klinder), die (in der Premiere zwei Tage vor der Bundestagswahl) als perfektes Kanzlerinnen-Double auftritt. Schade nur, dass sie als solche lediglich einen kurzen Auftritt hat (laut Shakespeare wäre sie noch zweimal wieder gekommen).