Kapitalismus auf dem Kinderspielplatz
Was ist das für ein toller Roman, den Don DeLillo im Jahre 2003 geschrieben hat! Was ist das für ein Mann, dieser skrupellose Träumer Eric Packer, der herzlos scheint, aber nur eine asymmetrische Prostata hat, dessen Gefühlsleben abgestorben scheint, der aber gerne Lyrik liest! - Es ist ein flirrender Roman, und seine Protagonisten sind flirrende Figuren, die keinerlei psychologische Feinzeichnung aufweisen. Und doch glaubt man sie aus der Ferne zu kennen, wenn man wie der Schreiber dieser Zeilen lange in einer internationalen Großbank gearbeitet hat. Fünf Jahre vor der letzten großen Finanzkrise geschrieben, wirkt DeLillos Cosmopolis auf den ersten Blick visionär. Aber Investment Banker wie den 28-jährigen Eric, der verantwortungslos und abgenabelt von jeglichem Realitätsempfinden durch den Abenteuer-Park der Finanzwelt und das Chaos seines Privatlebens irrt, gibt es schon seit Beginn der 90-er Jahre, als die Finanzmärkte eine kaum noch kontrollierbare Komplexität annahmen und als kapitalistische Gier salonfähig wurde, weil das Gegenmodell eines idealistischen Sozialismus sich endgültig als mit der menschlichen Natur unvereinbar erwiesen hatte.
Banker und Unternehmer, die die Bodenhaftung nicht verloren hatten, ahnten schon damals, dass uns diese neue Spezies von Finanzexperten eines Tages in den finanziellen und moralischen Abgrund reißen würde. DeLillo hat die Auswüchse der Branche gut beobachtet. Er hat mit Eric Packer eine Figur gezeichnet, für die es im Investment Banking viele Vorbilder gibt - und er hat diese Figur anschließend bewusst ins Unpräzise verwischt. Er zeichnete sie schwammig, gab ihr aber einige sehr konkrete Eigenschaften mit. Die Welt, in der er sich bewegte, zeichnete DeLillo vordergründig als zukünftige Dystopie, doch in ihren wesentlichen Ausprägungen war diese Welt längst existent: DeLillo verdichtete all die beklemmenden, die Welt eng und bedrohlich machenden Ereignisse, die dem Bewohner einer pulsierenden Großstadt widerfahren können, und ließ sie sich an einem einzigen Tag ereignen. Als Kulisse nutzte er den Moloch des Finanzmarkts schlechthin: Das turbokapitalistische New York. Innerhalb von 24 Stunden erlebt Eric: Groß-Demos und Krawalle von antikapitalistischen Globalisierungsgegnern. Die Androhung eines Attentats gegen den in der Stadt weilenden US-Präsidenten. Den drohenden Zusammenbruch der Finanzmärkte. Eher zufällige Treffen mit der eigenen Ehefrau. Sex mit der Geliebten. Die Ermordung des geschäftsführenden Direktors des Internationalen Währungsfonds in Nordkorea, die Sekundenbruchteile später von der SpyCam in Erics Wagen übertragen wird. Einen Bombenanschlag. Gespräche mit dem Sicherheitschef über Schutzmaßnahmen für Menschen und Computer. Eine Selbstverbrennung. Eine Prostata-Untersuchung, zeitgleich mit der Konsultation seiner Finanzchefin. Einen Gang zum Friseur. Die eigene Ermordung. Und vieles anderes mehr. All das reichert DeLillo in seinem Roman mit politischen und philosophischen Dialogen und Gedanken an, die die Figur des Eric Packer, der Gedichte weniger wegen ihrer lyrischen Qualität schätzt als wegen der optischen Faszination durch das viele Weiß auf den Druckseiten, noch weniger greifbar machen.
Eric Packer, der Mann des Cyber-Kapitals, fährt mit seiner riesigen Stretch-Limousine scheinbar ziellos durch die Stadt. Echte Gefühle hat Eric nicht mehr, aber er sehnt sich nach Extremsituationen, nach Erlebnissen und Gefühlen, die er noch nicht kennt. Manchmal sieht Eric eine junge Frau in einem benachbarten Taxi, und nach kurzer Weile fällt ihm auf, dass es sich um Elise handelt, seine Frau, mit der er seit 22 Tagen verheiratet ist. Für den Aufbau einer Beziehung zu ihr haben ihm bislang Zeit und Interesse gefehlt. Mit Eric und Elise haben sich altes Geld und neues Geld vermählt. Sie besitzt ein (lächerliches) Vermögen in Höhe von US-$ 735 Millionen, das die Familie über Generationen aufgebaut hat; er besitzt ein Vielfaches davon, das in wenigen Jahren zusammenspekuliert wurde. Als er sein Vermögen verliert, zerstört er mutwillig auch ihrs. Die banalen und extremen Ereignisse, die wir aufgezählt haben, sieht er durch die Scheiben seines Autos, aber auch mit Hilfe der Multimedia-Installation von Bildschirmen in seiner Limousine. Seine Finanzchefin, sein Sicherheitsberater, sein Arzt, seine Chef-Theoretikerin steigen gelegentlich ins Auto zu. Was immer auf der Welt passiert, hat Packer Sekundenbruchteile später auf dem Video-Screen; sich selbst und seine unmittelbare Umgebung sieht er live, bis sich gegen Ende auch das Live-Bild verwischt und zeitlich verschiebt. Denn Erics Welt gerät an diesem Tag mehr und mehr ins Wanken. Märkte und Finanzmogul sind nicht mehr zu retten.
Wie nun soll man diesen Roman auf die Bühne bringen? Für Cyberspace und Videoscreens wäre wohl Kay Voges der richtige Regisseur, bei dem Pathos und Ironie, die Macht der Bilder und die Freude an der Technologie sich zu einem Fest für alle Sinne verbinden würden. Johan Simons geht bei der Ruhrtriennale einen anderen Weg. Er verfremdet die Charaktere noch stärker als es DeLillo im Roman tut, entpsychologisiert sie vollständig und besetzt sie mit seinen niederländischen und flämischen Schauspielern, die zum Teil nur gebrochen Deutsch sprechen. Er verpflanzt sie in der ersten Hälfte in eine Kinderwelt und in der zweiten in einen theoretischen Diskursraum. Das ist, nehmen wir es vorweg, in der ersten Hälfte eine Zumutung und in der zweiten eine bisweilen quälende Anstrengung. Zu einem Theatererlebnis wird es selten.
Die Bühne in der riesigen Jahrhunderthalle ist ein angedeuteter Spielplatz. Im Sandkasten sitzt Bert Luppes als Erics künftiger Mörder Benno Levin. Ein mehrsitziges Schaukelgerüst, ein Klettergerüst sowie ein großes Holz-Karussell dominieren das Zentrum; rechts stehen etwas verloren drei Wipp-Pferde herum. Noch verlorener als die Pferde wirken die Spielzeug-Stretchlimousine, ein paar Schleichtiere und andere Kleinspielzeuge. Die Schauspieler agieren wie Kinder, sind aber nahezu ausnahmslos eine halbe bis eine ganze Generation älter als ihre Figuren im Roman. Verfremdung ist also das Ziel des Regisseurs. Doch fremd scheint ihm nicht nur die Finanzwelt (unendlich betulich und anspruchslos werden zum Beispiel Packers Spekulationsgeschäfte erläutert), sondern auch der Roman geblieben zu sein. Simons bezieht sich im Programmheft auf eine von dem Berliner Philosophen Byung Chul Han in der Eröffnungsrede der Triennale des Jahres 2015 erzählte Geschichte aus dem Griechenland der Finanzkrise: Kinder fanden Geld und zerrissen es im Spiel. Sie „profanieren das Geld, … den neuen Götzen, indem sie es einem ganz anderen Gebrauch, nämlich dem Spielen, zuführen. Die Profanierung verwandelt das Geld, das heute fetischisiert wird, schlagartig in ein Spielzeug“, hatte der Philosoph fasziniert erzählt.
Nur: Ein Spiel ist das nicht, das Don DeLillo in seinem Roman beschreibt. Zwar führt Eric Packers riesiges Vermögen im Verein mit Erics emotionaler Kälte dazu, dass er seine Umwelt wie ein belangloses Spielzeug behandelt. Aber DeLillo skizziert eher eine Apokalypse, er entwirft - durchaus ironisch überspitzt - eine dystopische Vision einer Welt, die es nicht vermag, sich der zunehmend moralfreien Entwicklung der Finanzmärkte entgegenzustellen. Simons dagegen setzt im ersten Teil seine Schauspieler, die wir in anderen Produktionen schon in herausragender Form erlebt haben, der Lächerlichkeit aus. Der 61-jährige Pierre Bokma stolpert in halblangen Hosen, mit viel zu kurz gebundener Krawatte unter zu engem Jackett und mit Bällen und Eimerchen unterm Arm durch die Szenerie und kämpft auf verlorenem Posten - leider auch mit der deutschen Sprache. Mandela Wee Wee, der einzige Schauspieler, der an diesem Abend ohne Einschränkungen zu überzeugen vermag, guckt dieses zutiefst albern wirkende Geschöpf an und ruft: „You are magic!“ Das will Eric Packer fraglos hören, aber Bokma ist alles andere als das: Weite Teile der Aufführung - auch im zweiten, anspruchsvolleren und erträglicheren Teil - kranken daran, dass Bokma keine überzeugende Haltung zu seiner Figur gefunden hat (vielleicht aufgrund von Simons‘ Regiekonzept nicht finden durfte). Für den Zuschauer, der den Roman nicht gelesen hat, dürfte die Mehrfachbesetzung vieler Rollen durch Mandela Wee Wee und die Besetzung sämtlicher Frauenrollen durch die bravourös kämpfende Elsie de Brauw verwirrend sein.
Immerhin lässt sich ein Sinn darin finden, dass Bert Luppens als Erics künftiger Mörder von Beginn an auf der Bühne anwesend ist. Im Sandkasten sitzend, mit langsamer, unbeholfener Sprache produziert auch seine Figur lange Zeit unfreiwillige Komik. Aber wenn Benno als Menetekel stets im Hintergrund des Geschehens wahrnehmbar bleibt, wenn ihm Gedanken zu Einsamkeit und menschlicher Ausgrenzung durch den Kopf gehen, begreift man auf einmal: Auch Eric ist einsam, auch er ist ausgegrenzt. Auch die im Vergleich zum Roman quantitativ deutlich aufgewerteten sexuellen Passagen befördern den Eindruck einer Asozialität der Protagonisten. Eric krankt an dem gleichen „Verlust von Seele“, den Benno bei sich beklagt. Benno macht Eric, seinen früheren Vorgesetzten, für den Verlust seiner Seele verantwortlich. Hat Eric seinerseits seine Seele aus eigenem Verschulden verloren, oder konnte auch er sich nicht gegen die Kräfte des „Marktes“ wehren? Hat der Markt sich verselbständigt, frisst der Markt längst seine Kinder?
Das sind interessante Gedanken, die sich im zweiten Teil der Aufführung einstellen, der ohnehin anspruchsvoller und gedankenschwerer wird. Großartig sind die poetischen Reflexionen von Mandela Wee Wee über die Seele der Zahlen und der Algorithmen. Ja: Wee Wee is magic, wie es auf seinem T-Shirt steht - nicht sein Chef! Die langen Passagen theoretischer Kapitalismuskritik sind schwerer konsumierbar als im leichthändiger geschriebenen Roman, aber sie geben dem Kopf zu tun. Auch szenisch wird die Aufführung sinnfälliger: Wenn Benno vor dem Mord wieder im Sandkasten sitzt und Sand herausschaufelt, wirkt er plötzlich wie ein Totengräber, und der Sandkasten wird zum vorbereiteten Grab. Es drängt sich auch der Gedanke auf, ob „altes Geld“ nicht moralischer ist als heutige Spekulationsgewinne: Wenn Eric innerhalb von Sekunden mutwillig das gesamte, über Generationen aufgebaute Vermögen seiner Ehefrau vernichtet, haben Kapitalismus und Gier nicht nur Geld, sondern auch die Vergangenheit vernichtet. Der Spekulant lebt nicht nur ohne Geschichtsbewusstsein, sondern er vernichtet in solchen Momenten Geschichte.
Simons bezeichnet seine Aufführung als Musiktheater. Darüber kann man sich streiten, denn das fabelhafte Saxofon-Ensemble von BL!INDMAN greift nicht stärker ein als dies inzwischen in vielen Schauspiel-Inszenierungen üblich ist. Aber es zeigt eine Bandbreite von schrillem Apokalypsen-Alarm über Jazz-Rhythmen bis hin zu sakraler Kirchenmusik. Es ist von ungeheurer Vielseitigkeit und jederzeit ein Gewinn für die Aufführung.