Farm der Tiere im Schauspielhaus Düsseldorf

Das Schaf mit der rechten Gesinnung

Jetzt also die Farm der Tiere. Daniela Löffners zum Berliner Theatertreffen 2016 eingeladene Turgenjew/Friel-Inszenierung Väter und Söhne vom Deutschen Theater Berlin (siehe hier) war eines der großen Theaterereignisse der vergangenen Jahre. Mit dem vereinigten Ensemble des Jungen Schauspielhauses und des Düsseldorfer „Erwachsenen-Theaters“ inszeniert die Regisseurin nun ein grundlegend anderes Stück, und auch die Zielgruppe der Inszenierung ist eine andere, zumindest in Teilen weniger theatererfahrene. Aber das eine oder andere inszenatorische Mittel ist doch wiederzuerkennen. Erstens: Wir sitzen wieder alle in wenigen Reihen rund um die Raum-Bühne herum. Zweitens: Erneut beweist Löffner ihre Meisterschaft darin, die Schauspieler auch nonverbal glänzen zu lassen. Was sich in ihrer Mimik, Gestik und Körperhaltung abspielt, wenn sie unbeteiligt am Rand des Geschehens stehen und ihren aktiven Kollegen zuhören, ist - wie bei Väter und Söhne– einen eigenen Begeisterungstext wert. (Da fast alle Darsteller Tiere spielen, erweisen sich nicht überraschend in dieser Hinsicht die Schauspieler(innen) aus dem Jugendtheater als besonders geschickt.) Die größte Parallele zu Väter und Söhne liegt allerdings in der Gelassenheit, die sich die Regisseurin nimmt, um ihr Stück zu entwickeln. Ganz gemächlich können wir uns mit der Persönlichkeit, den Macken und Marotten der Figuren vertraut machen. So dauert Animal Farm geschlagene drei Stunden. Langweilig wird es keine Sekunde.

Ganz ehrlich: Die sind nichts wert, die Drecksviecher!“, mault Bauer Jones verächtlich. Einspruch, Euer Ehren: Die Tiere, die auf seiner heruntergekommenen Farm weniger der Diktatur eines gnadenlosen Kapitalisten als vielmehr der Willkür eines dauerbesoffenen Stümpers ausgesetzt sind, sind zunächst einmal ziemlich süß. Was für ein verrücktes Huhn tritt da aus der ersten Reihe auf, als die Vorstellung beginnt! Jonathan Gyles ist mit seinen schüchtern ruckenden, pickenden Bewegungen ein bezauberndes Federvieh, das in seinem bescheidenen, aber goldgelb glänzenden Kleidchen trotz aller Schüchternheit weiß, wie hübsch es ist. Über la bellezza della vacca kann man schon eher streiten, aber originell ist Alessa Kordecks Kuh mit ihrem vorgeschnallten Milchbeutel-Euter allemal. Ein wenig naiv und gutschäfelnd, aber entzückend anschmiegsam kommt Julia Goldbergs Schaf daher. Wenn sie vom Bauern (Alexander Steindorf) brutal geschoren wird, leidet der Zuschauer physisch mit. Und dass ausgerechnet der kräftige Jan Maak ab und an kokett seinen Pferdeschweif schüttelt, macht schmunzeln – nun ja, er ist ein „Zugpferd“, da sind koketter Schweif und kraftvolles In-die-Zügel-Hängen kein Widerspruch.

Zückerchen gibt’s für Boxer, das kräftige Pferd, nicht. Das Leben auf diesem Hof ist alles andere als ein Zuckerschlecken. Als Old Major, der alte Zuchteber, sein Ende nahen fühlt, resümiert er noch einmal das Leben unter der Knute des alten Jones. Voller revolutionärer Ideen ruft er zum Arbeiteraufstand auf und stirbt: Karin Pfammatter, der tote Eber, wird kurzerhand in eine graue Hose gezwängt und erlebt eine Reinkarnation als Esel Benjamin. Stoisch, mit mürrischem Gesicht, gedankenversunken wird Pfammatter die nächsten zweieinhalb Stunden begleiten – bis dass sich Benjamin ein einziges Mal verzweifelt aufbäumt. Pfammatter wird der emotional erschütterndste Moment der Aufführung gehören.

Zunächst einmal ist es das junge Mastschwein Quieker, das begeistert ausruft: „Es lebe die Revolution!“ – Und wie sie lebt: Es ist ein Fest, wie die von allen Zwängen befreiten Tiere sich im Schlamm wälzen und nach Herzenslust „inne Murre murren“, wie sie mit den Produkten ihres Hofs herumsauen und wie sie die Lust an intelligenten Blödeleien, absurdem Humor und extemporierter Alliteration entdecken. Doch wir wissen aus der Schule: Es gibt da auch die ernsthaften Vordenker. Minna Wündrich als Snowball entwickelt die theoretischen Grundlagen des „Animalismus“ und wird bald unterstützt von Torben Kessler als Napoleon. Die Ferkel sind es, die die Revolution organisieren, und leider wissen wir auch: Bald gehen die Ferkeleien untereinander los. Doch erstmal werden revolutionäre Arbeiter- und Kampflieder gesungen und die Sieben Gebote des Animalismus entwickelt: „Alle Tiere sind gleich.“ Und: „Kein Tier soll Kleider tragen.“„Kein Tier soll ein anderes Tier töten.“ – Man wird ja sehen …

Zunächst einmal sehen wir in den Spiegel. Wenn man nicht mehr weiter weiß, gründet man ’nen Arbeitskreis. Die Gründung von Tierkomitees wird konterkariert durch bürokratische Versammlungs- und Tagesordnungen; der eine oder andere will die frisch gewonnene Freiheit nur zum Faulenzen nutzen, andere wiederum wissen mit ihrer Freizeit nichts anzufangen. Löffner und ihre Schauspieler führen uns in ihrer Fabel die Schwächen unserer Gesellschaft vor (wobei die von Orwell gemeinte sozialistische die unsere im Hinblick auf ihre Ineffizienz ja um Längen schlug). Diejenigen, die sich zu Führern der neuen demokratischen Gesellschaft aufschwingen, die Ferkel Schneeball und Napoleon also, erweisen sich als wenig kooperativ, begrenzt tolerant und manchmal auch intellektuell überfordert. Ein Schelm, der da an den Berliner Reichstag denkt – oder gar ans Düsseldorfer Rathaus. Das einfache Volk wird nicht so recht mitgenommen (und da ist Schneeball nicht viel besser als Napoleon), die komplizierten, aber durchaus innovativen neuen Ideen werden nicht ausreichend erklärt – und so ist es für den Intriganten Napoleon ein Leichtes, sich des Konkurrenten zu entledigen, zumal er mit dem Kilian Ponert als Ko-Ferkel Quieker einen loyalen Speichellecker an seiner Seite weiß. Soweit, so bekannt aus unserer politischen Kultur, doch auf Napoleons Farm gehen die Missstände über das in unserem Land Gewohnte hinaus. Es gibt Manipulationen, eine krasse Umschreibung der Vergangenheit, das volle Programm. Und dann: fordert Napoleon die Todesstrafe. Wie war das noch: „Kein Tier soll ein anderes Tier töten“? – Wenn Napoleon es sagt, muss es stimmen, sagt das Schaf, der naive Mitläufer. Und Quieker lobt: „Das ist die rechte Gesinnung, Genossen.“ – Die rechte, jawoll!

Staaten, die wir auf dem sicheren Weg in eine offene Demokratie wähnten, verwandeln sich heute wieder in autoritäre Diktaturen. Löffners Inszenierung entdeckt die Gültigkeit von Orwells dystopischer Fabel nicht nur vor dem Hintergrund wiedererstarkender totalitärer Parteien und Systeme, sondern auch im modernen demokratischen Kapitalismus. Sie fordert zur Wachsamkeit gegenüber allen potentiellen Verführern auf. Die Farm der Tiere steht bald vor der Hungersnot. Die Revolution ist gescheitert und mündet in eine neue, schlimmere Diktatur. Wir kennen das aus der Geschichte: Russland, Kuba, Venezuela. Sogar die Französische Revolution brachte statt Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit den Wohlfahrtsausschuss. Den „Tugendstaat“ mit 40 000 Todesopfern: La Grande Terreur de Robespierre. Auch auf der Farm gibt es nun den Vogel mit dem Adlerauge (der Überwachungskamera), und jedes Tier, das aufmuckt, wird auf Anweisung von Napoleon mit dem Tode bestraft. Selbst die Guten und Dummen, selbst Schaf und Huhn begreifen, dass etwas faul ist im Staate Napoleon. Kilian Land, das Schwein Banner, kommt im Business Outfit als Unternehmensberater zurück auf die Farm, um den Turbo-Kapitalismus einzuführen, und definiert das Wirtschaftswachstum als wichtigstes Staats-Ziel. Der stoische Esel denkt sich sein Teil; das Arbeitspferd Boxer hat ein paar ironische Kommentare. Und wird, als es krank wird, im Pferdemetzger-Wagen abgeführt – bemäntelt als großzügige Obamacare-Versorgung. Bei Karin Pfammatters Esel entlädt sich aller Jammer in einem so herzzerreißenden Schrei, dass uns die Tränen in die Augen schießen.

Napoleon ist längst zu einem ekligen, unglaubwürdigen Präsidenten im schicken Anzug mutiert - das Ferkel ist nun ein Polit-Schwein wie Erdogan oder Trump. Minna Wündrich ist nun Sau, die er sich zum Ficken gewünscht hat: ein TV-Star, eine tolle Sängerin und Schauspielerin – da lässt die Gattin von Kim Jong-un grüßen. Alle Tiere tragen nun schöne Kleider; ein Tausendjähriges Reich wird ausgerufen – und selbstverständlich freie und offene Wahlen. Der Überwachungsstaat funktioniert ja längst perfekt genug. Nur Esel Benjamin sitzt im tierischen Outfit dabei – erschüttert, zerschmettert, gebrochen. Er hat’s schon immer geahnt.