In der Zeit verloren
Dunst liegt über der dämmrigen Bühne, auf der mit drei ansteigenden Klappsesselreihen ein Theatersaal angedeutet wird. Auf einem Ecksitz fläzt sich ein Mann mit einem Textbuch. Über der leeren Vorderbühne schwebt eine große weiße Wolke, wie Kinder sie auf Sommerbildern malen, mit der Aufschrift „dream“.
Plötzlich grelles Licht und aus dem Off die Stimmen des indischen Gottes Indra und seiner Tochter Agnes, die sich anschickt, vom Himmel herabzusteigen, um das Welträtsel zu lösen. Polternd senkt sich die Traum-Wolke auf die Bühne und eine junge Schauspielerin in der Rolle der Agnes entsteigt ihr. Was wir hier komödiantisch persifliert sehen, ist eine kleine Szene aus Strindbergs Traumspiel, das im Bühnen-Theaterraum gerade geprobt wird. Dieses „Spiel im Spiel“ bleibt allerdings die einzige witzige Szene in dem Stück Nach der Probe, wenn es auch „eigentlich eine Komödie mit einem Dialog von Art schroffer Komödiantenlaune“ sein sollte, wie Bergman im (sehr informativen) Programheft zitiert wird.
In Düsseldorf macht der Regisseur Bernhard Mikeska daraus ein intensives Kammerspiel: konzentriertes Schauspielertheater um den alternden Regisseur Henrik Vogler (Andreas Grothgar) als lust- wie qualvolle Bilanz eines ambivalenten Künstlerlebens.
Zunächst also entsteigt Anna Egerman, eine junge beflissene Schauspielanfängerin, als Göttertochter Agnes der Wolke und sucht unter einem Vorwand das Gespräch mit dem mächtigen Regisseur. Kokett gibt Anna Platen, selbst noch Studentin der Otto-Falkenberg-Schule in München, die Rolle dieser jungen Frau, die durch kesse Fragen und raffinierte Anspielungen sich nicht nur ins künstlerische Erinnern des Meisters einzuschleichen sucht. Geschickt entlockt sie ihm Geständnisse zu einer längst vergangenen Zeit, als ihre so verhasst wie beneidete Mutter eine große Schauspielerin und die Geliebte des Regisseurs war.
Da sind nun schnell einige Psychodramen angerissen: Mutter-Hass und -Eifersucht, Beziehungs- und Generationskonflikte, vielleicht auch (Ersatz)-Vater-Beziehung und Me-Too-Problematik. Doch gerade als sich die Sorge einschleichen will, dass diese etwas platten Psychomuster und die Darstellungskraft der jungen Schauspielerin nicht über neunzig Minuten den Raum füllen könnten, bricht mit Karin Pfammatter das Irrationale herein: furios, komödiantisch wie tragisch gibt sie die Mutter Rakel: geliebt wie gehasst, vom Alkohol gezeichnet und doch voll Lebenssucht. Getrieben von der Gier nach Wahrheit und Liebe, macht sie nicht Halt vor der Selbstentblößung (konkret bis auf die schwarze Spitzenunterwäsche) und bleibt doch zugleich in Missverständnisse und Lügen verstrickt. Ein grandioses Durchdeklinieren eines Künstlerlebens in Glanz und Scheitern. Die erinnerten Szenen liegen zehn Jahre zurück, Anna war damals zwölf, Rakel ist inzwischen längst tot. Und dennoch, alle Grenzen verwischen, scheinen aufgehoben: zwischen Spiel und Realität, zwischen einst und jetzt, zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Mutter und Tochter. Sie tauschen die Kleider, sehen sich frappant ähnlich. Am Ende sitzt die Wiedergängerin Rakel in einem der Zuschauersessel auf der Bühne und schaut dem Treiben der Tochter mit Henrik Vogler zu. Sie spielen ihre verpasste Beziehung im Konjunktiv durch: so wäre es gekommen, wenn… Anna fordert ihn heraus, demütigt ihn. Dreimal lässt Mikeska in seiner Inszenierung die Szene um den Gesichtsverlust des Mannes durchspielen, die Bergman nur zu Beginn als „echte“ Probenszene vorgesehen hat: „Ich wollte sehen, wie du dein Gesicht verlierst. Ja, weiß Gott, du hast dein Gesicht verloren.“ Jetzt ist die Szene aus Strindbergs Traumspiel in unserem Stück angekommen: Die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist aufgehoben, das echte Leben in den Schutzraum des Theaterseingebrochen.
„Meine Traurigkeit hat nichts mit dir zu tun. Sicher.“ Mit diesen Worten Voglers endet das Stück. Andreas Grothgar gibt den misanthropischen Künstler überzeugend: seiner Sache sicher und doch zutiefst verunsichert. Bergman nannte das Stück, das er mit fünfundsechzig Jahren als Drehbuch schrieb „eine nette Episode auf dem Weg zum Tod“. Es sollte sein letzter Film werden. Doch dem Theater blieb er treu: dreimal inszenierte er Strindbergs Traumspiel auf der Bühne, einmal fürs Fernsehen. Strindbergs Vorwort könnte auch über Bergmans Werk stehen: Alles ist möglich. Raum und Zeit existieren nicht. Die Einbildung webt neue Muster. Das zu vermitteln, gelingt dem Regisseur Bernhard Mikeska. Er hält sich an die Worte Voglers im Stück: Eine Theatervorstellung entsteht, wenn drei Elemente gegeben sind: das Wort, der Schauspieler, der Zuschauer. Das ist alles, was man braucht, damit das Wunder geschieht. Es ist ihm gelungen und die Zuschauer dankten mit begeistertem Applaus.