Was kostet die Welt?
Das Essener Grillo Theater feiert in dieser Spielzeit seinen 125.Geburtstag. Dies war der Anlass, die Zuschauer eines von fünf Stücken für die Eröffnungspremiere aussuchen zu lassen. Sie entschieden sich für Dürrenmatts Besuch der alten Dame.
„Man kann alles kaufen.“ Claire Zachanassian liefert die Probe aufs Exempel und kauft sich Gerechtigkeit bzw. das, was sie für Gerechtigkeit hält. In Wirklichkeit geht es aber um Rache für eine persönliche Verletzung, die ihr in ihrem Heimatort Güllen vor etwa 40 Jahren zugefügt wurde. Rache an ihrer Jugendliebe Alfred Ill, von dem sie sich verraten fühlt, und an dem Umfeld, das diesen Verrat unterstützte. Durch Heirat wurde sie unendlich reich. So verfügt sie über die Mittel, die Güllener Bürger mittels Geld, das sie kompromisslos einsetzt, von jeglicher zivilisatorischer Verabredung zu entfremden. Letztlich lässt sie durch ihren Reichtum töten.
Die Stadtbewohner in Dürrenmatts Stück gehören zu einer verarmten Gesellschaft, sie alle haben sich verschuldet. Sie lassen sich kaufen und reden sich die Unmoral schön. Claire Zachanassian gewinnt das Spiel, doch eine wirkliche Genugtuung kann es für sie nicht geben.
Thomas Krupa inszenierte Den Besuch der alten Dame am Grillo Theater. Zu Beginn sehen wir eine Art „Ghost Town“ auf der Bühne. Müll und Papier verunzieren die Stadt, die Honoratioren – so unter anderen der Bürgermeister, der Lehrer und der Arzt – schluffen in Aldiletten umher und sehen wie Penner aus (lange, ungepflegte Haare, abgetragene Kleidung). Bonjour Tristesse. „Dabei waren wir mal eine Kulturstadt“, wird lamentiert. Der Hoffnungsschimmer für die verarmten Bürger ist die Milliardärin Claire Zachanassian, eine Tochter der Stadt. Sie kehrt heim, nach langer Zeit hält deshalb der ICE erstmals wieder in diesem Ort. Sie erscheint in strahlendes Weiß gekleidet. Ines Krug spielt sie überzeugend als kühle Rachegöttin, die sich auch durch manch sentimentale Erinnerung an früher nicht von ihrem Plan ablenken lässt. Ihr Angebot – eine Milliarde für den Tod von Ill - wird zunächst empört abgelehnt. Doch schon im nächsten Bild sehen wir, dass ein großer Wandel stattgefunden hat. Man konsumiert wie besessen auf Pump, als gäbe es am nächsten Tag nichts mehr zu kaufen. Alle sind gut gestimmt und singen beschwingt zu „Butter und Brot“. Die grauen Zeiten scheinen vergessen, ebenso wie die ständig wachsenden Schulden. Alfred Ill, Claires große Jugendliebe (Sven Seeburg spielt ihn anrührend, zunächst noch um sein Leben fürchtend, dann resignierend seine Schuld eingestehend) muss erfahren, wie alte Ideale zu Worthülsen verkommen. Selbst der Pfarrer (Rezo Tschchikwischwilli) kann den Verlockungen des Kapitals nicht widerstehen und freut sich über die neue Kirchenglocke. Auch an der neuen, farbenfrohen Kleidung der Güllener erkennt der Zuschauer den Wandel dieser Gesellschaft. Selbst die Badelatschen des Bürgermeisters sind jetzt vergoldet. Claires Kommentar: „Die Welt machte mich zu einer Hure. Jetzt mache ich sie zu einem Bordell.“ So ist das Ende abzusehen. Auch wenn die Lösung der wirtschaftlichen Sorgen nur im Verrat liegt – Alfred wird zum Sündenbock erklärt, der geopfert wird.
Krupa gelingt es, durch anschauliche Bilder die Käuflichkeit der Bürger und ihren moralischen Absturz drastisch zu zeigen.
Die Thematik in Dürrenmatts Stück ist nach wie vor aktuell, kurbeln doch auch Konsumkredite die Wirtschaft an. Kredit ist schick. Das belegt auch die rasant ansteigende Verschuldungsrate unter Jugendlichen. In Deutschland sind 3 Millionen Privathaushalte überschuldet, d.h. bankrott.
Ein beeindruckender Abend mit einem engagiert spielenden Ensemble. Zu nennen sind noch: Stephanie Schönfeld, Denise Matthey, Axel Holst, Stefan Diekmann, Thomas Büchel, Philipp Noack).