Ein großes Irrenhaus
Durch die Türen, die sich erst kurz vor Beginn der Aufführung in den Großen Saal des Hoftheaters der Alanus-Hochschule in Alfter öffnen, schallen wirre, geisterhafte menschliche Klänge, suchen Kontakt zum Nachbarn; ach ja, wir sind ja hier in einem Hospiz für seelisch Kranke, einem Irrenhaus. In dieses hatte der deutsch-schwedische Autor sein Drama, kurz “Marat/Sade“ genannt, verortet.
Es hat vermutlich einen der längsten Titel in der Literaturgeschichte, das Drama von Peter Weiss: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. Damit ist alles gesagt: eine kurze, klare Inhaltsangabe. Immerhin: Die Französische Revolution, oft als die „Geburtsstunde unserer modernen Gesellschaft“ bezeichnet , weist allein bei Google über 450.000 Einträge auf.
An dieser Hochschule „für Kunst und Gesellschaft“, fast idyllisch im Vorgebirge vor den Toren Bonns gelegen, kann man fast alles studieren - außer Naturwissenschaften oder Medizin. Zentrale Fächer sind Schauspiel, Kunst, Musik, Eurythmie, Architektur, Pädagogik und Betriebswirtschaftslehre. Auch ein fächerübergreifendes „Studium Generale“ wird angeboten. Und hier entstand unter der Regie von Michael Barfuß, Dozent der Hochschule und langjähriger musikalischer Leiter am Schauspiel Bonn, das besagte Stück aus dem Zentrum der Französischen Revolution. Uraufgeführt 1964 am Berliner Schiller-Theater und damals als ganz große Theater-Sensation gefeiert, geht es Peter Weiß um die Revolutions-Charaktere Marquis de Sade und Jean Paul Marat und deren konträren Weltanschauungen.
Alle Darsteller sind Insassen einer Anstalt. Unter der Regie des Mitpatienten de Sade wird sein Kontrahent Marat in seiner Badewanne von der adligen Nonne Charlotte Corday erstochen. Die Irren werden bewacht von rigorosen, schwarz-weiß uniformierte Nonnen und Pflegern (gespielt von der Bonner Seniorengruppe Groove@Grufties, von denen einer seinen Schutzbefohlenen sogar an der Hundeleine führt. Die „echten“ Zuschauer sitzen auf Tribünen vor und hinter dem Spielfeld; eine geschickte Anordnung, um keine Details der sehr intensiven, aber auch ironischen und teilweise drolligen Inszenierung zu verpassen. Ein echter Knaller.
Fabian Lichottka spielt den ehemaligen Linksintellektuellen und Nihilisten Sade, nach dem der Sadismus benannt ist, als herrlich herrischen und zynischen Rhetoriker, der für die Ideen der Revolution nur noch ein müdes Lächeln übrig hat und sein Heil in der Loslösung des Individuums aus der Gesellschaft sieht. Sein Gegenspieler, der Volkstribun Marat, der – von Krätze gequält - die letzten Stunden seines Lebens in einem winzig kleinen Badebecken verbringt, wird von Lukas Bendig stimmig mal als wehleidiger, Trübsal blasender, mal als machtwütiger Revolutionär, Moralist und Tugendwächter dargestellt.
In der Badewanne sitzend empfängt Marat - abgeschirmt von seiner Frau Simone Evrad (großartig die Spielfreude von Camilla Pölzer) - seine Mörderin Charlotte Corday. Sie ist eine vom Heilsauftrag zur Rettung der alten Welt Besessene, die in der Alfterer Inszenierung in jedem ihrer drei vielschichtigen Auftritte durch eine andere Darstellerin besetzt ist: Karen Gauler, Alisa Berlin und Sabine Soydan meistern ihre Aufgaben mit Bravour, Schärfe und Brisanz.
Cordays Liebhaber Duperret will sie von der Tat abhalten. Er ist ein „liberaler Scheißer“, der neben seinen Thesen zur Mäßigung und zur (vor allem wirtschaftlichen) Freiheit nur eines im Kopf hat: Gier nach Sex. Duperrets Erotomanie wird glänzend verkörpert durch Gerrit Maybaum. Er versucht dauernd, unter Cordays Kleid zu schlüpfen, während diese den halbnackten und stöhnenden Marquis auspeitscht.
Dann ist da noch der ehemalige Priester Jaques Roux, den man heute wohl einen revolutionären Fundamentalisten nennen würde und der von Karl Marx einmal als Wegbereiter der kommunistischen Idee bezeichnet wurde. Eduard Jäger hat ihm das Gesicht eines dümmlich-naiven Provokateurs und Revoluzzers verpasst.
Mal als Dompteur, dann wieder als eine Art Harlekin greift der Ausrufer/ Anstaltsleiter als Vertreter der Bourgeoisie (verständlich, glaubwürdig und mit viel Spaß gespielt von Jonas Mayerhöfer) immer wieder in die Handlung, in das Spiel im Spiel ein - vor allem, wenn es brenzlig wird für seine Klasse. Er ist das dramaturgische Bindeglied zwischen den drei Spielebenen: die Französischen Revolution, die nach-revolutionären Jahre im Irrenhaus und die heutige Zeit.
Alle gemeinsam, Patienten – bei denen Inka Wiederspohn herausragend intensiv spielt - und Mitarbeiter des Irrenhauses, Nonnen und Wärter, verkörpern das Volk, wenn sie nicht gerade als Akteure im Zentrum des Geschehens stehen. Sie hinken, schielen, geifern, geben bedrohliche und glücklich machende Urlaute von sich. Sie lieben, beten, betreiben Ketzerei, singen, lachen, baden, streiten, peitschen, foltern, morden und köpfen – was das Zeug hält. Hier kommen Gestik und Mimik der Schauspiel-Novizen trefflich zum Ausdruck. Man erinnert sich unweigerlich an die „heitere Seelenkunde“ von Manfred Lütz: „IRRE! Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen.“ Nein, das Hospiz zu Charenton ist nicht auf das Hoftheater der Alanus Hochschule in Alfter beschränkt. Die Übergänge sind fließend – eine Einsicht, die sich im Laufe des Abends mehrfach einstellt.
Vier Musiker sitzen in ihren weißen Anstaltskitteln am Rand der Bühne. Ihre Livemusik ist ein wichtiger, ein tragender Pfeiler dieses Diskurstheaters, weit mehr als nur Unterstützung des eindringlichen Chors der Anstaltsinsassen, der zwar gut geführt, aber nur selten gut zu verstehen ist. Hier mangelt es an ausdrucksvoller, an deutlicher Diktion – oder ist wieder einmal die Akustik schuld? Ansonsten stimmt alles: Eine Regie, die auf Spielspaß und Ironie setzt; zehn Nachwuchs-Schauspieler und sieben Senioren, die allesamt zu Höchstformen auflaufen, witzig und wortgewaltig spielen; faszinierend auch die rhythmische Songmusik von Hans-Martin Majewski. Dazu tolle Kostüme von Luana Andreotti und ein minimalistisches Bühnenbild von Elise Richter, das aus einem Planschbecken mit Stuhl darin und einigen weißen Stoffbahnen besteht, also eigentlich (fast) kein Bühnenbild ist. Regisseur Barfuß konzentriert sich auf die Schauspieler, den Text, die Inhalte. Die stehen sehr präzise im Mittelpunkt.
„Die Zeit vergeht, die Wut bleibt“, war jüngst auf einem Protestplakat während des G 20-Gipfels in Hamburg zu lesen. Die Probleme bleiben. Und die Wut-Bürger haben Konjunktur – damals wie heute, in der Realität und auf der Bühne. Sie wissen, was sie wollen, brüllen lautstark ihre Forderungen heraus und mausern sich zu wirklichen Agitatoren unserer Zeit, wenn sie mehr „Brot“ und einen „Chef in der Krise“ fordern. Wie dem begegnen? Die Barfuß-Inszenierung gibt zwei Hinweise: eine kurze Einspielung eines Redeausschnitts von Emmanuel Macron und die von Marat mit zittrigen Fingern angedeutete Merkel-Raute. Allerdings bleibt ein großes Fragezeichen, ob das die richtigen Rezepte zur Lösung der Probleme sind.
Die Rezepte von Peter Weiss stimmen allerdings nach wie vor für ein gutes, zeitloses und gleichzeitig zeitgenössisches Theater über Demokratie und Demagogie, über soziale Bewegungen und Individualismus – witzig, ironisch, auch ein wenig politisch und poppig inszeniert von Michael Barfuß. Ein veritables Vergnügen, packend und intensiv. Eine Wiederholung ist im Frühjahr im kommenden Frühjahr in der Bonner „Brotfabrik“ geplant.