Möglicherweise gab es einen Zwischenfall im Köln, Freies Werkstatt-Theater

Zwischenfälle schaffen Helden und Gescheiterte

Kann sein - kann sein, dass nicht. Möglicherweise gab es einen Zwischenfall. Vier Zwischenfälle sind es genaugenommen, die Catherine Umbdenstock im Freien Werkstatt Theater Köln von drei Schauspieler(inne)n und einer Lautsprecher-Box collageartig erzählen und reflektieren lässt. Vielleicht sind diese Zwischenfälle real, vielleicht auch nicht. Einen glauben wir identifizieren zu können, einen anderen in verfremdeter Form. Ein dritter erinnert zumindest von fern an reales Polit-Geschehen. Der vierte – nun ja, er kommt schon mal vor; sensationshungrig wie wir sind, lesen wir dann davon in den Medien, suchen nach Bildern im Internet. Es sind Geschichten von Helden – gescheiterten Helden vornehmlich. Sie sind gescheitert an sich selbst oder gescheitert an den Umständen. Und einer, der glaubt, ein Held zu werden mit seiner Tat, ist längst gescheitert an seinen verqueren Moralbegriffen.

 „Anscheinend bestehen wir alle aus Sternen“, sagt Maria Ammann gegen Ende ihrer Erzählung. Und sie ergänzt: „Also, aus toten Sternen.“ Vielleicht ist es dieser Satz, der die Kostümbildnerin Lisa Fütterer auf die Idee gebracht hat, die drei Figuren ihres Stückes in goldgelbe Anzüge zu kleiden. Ein Mann, der es zum unbekannten Star gebracht hat, der über sich selbst und das menschliche Maß hinauswuchs bis zu den Sternen, war der sogenannte „Tank Man“ vom Tiananmen Square. Er ist recht eindeutig zu identifizieren in der Geschichte vom „Mann im weißen Hemd“, die Maria Ammann erzählt: der Mann, der im Jahre 1989 über eine Absperrung kletterte und sich auf der Chang’an Avenue in Peking mit zwei Einkaufstüten in der Hand den anrollenden Panzern entgegenstellte, um ein Massaker zu verhindern. Ein Mann, ein Held – er ist „in diesem Moment zum mächtigsten Mann dieses Planeten geworden“, wie Ammann sagt. Man weiß bis heute nicht, wer er war – vermutlich ist er als gescheiterte Existenz elend in chinesischen Gefängnissen zugrunde gegangen.

Die Figur, die Marius Bechen vorstellt, hat nie Heldenstatus erreichen können. Ein Vielflieger, ein Geschäftsmann wohl, ist auf der Reise in ein neues Leben, in eine neue Stadt, in der er sich niederlassen will. Bei der Landung bricht sein Flugzeug auseinander. Alle Passagiere verlassen die havarierte Maschine, nur er selbst zögert. Er entdeckt einen in der letzten Reihe eingeklemmten Jungen in der Maschine und versucht vergeblich, ihn zu befreien. Als der Mann die Maschine verlässt, um die Rettungskräfte auf die Situation aufmerksam zu machen, explodiert das Flugzeug.     

Die vielleicht ambivalenteste Figur wird von Charlotte Krenz dargestellt. Sie, eine ehemalige Freiheitskämpferin, hat ihr politisches Spiel gewonnen; heute ist sie selbst Repräsentantin der politischen Elite. Die Diktatoren hat sie erschießen lassen. Ihr Land wollte sie „strukturieren wie ein Gedicht“ – doch das Land zu strukturieren, gelingt ihr nicht ohne neue Ausübung von Gewalt. Verantwortung zu übernehmen, ohne zu töten – das ist das, was die Menge von ihr will. Sie erkennt, dass die erhoffte Rückkehr zu einer wahren Demokratie gescheitert ist, und sie versucht sich zu rechtfertigen. Letztlich ist aus dem Polizeistaat von einst der Polizeistaat von heute geworden: Die Frau spricht das Todesurteil aus über Soldaten, die sich weigern, auf Demonstranten zu schießen. Die Figur von Charlotte Krenz ist nicht nur die ambivalenteste, sondern auch die differenzierteste Figur von Thorpes Stück: Sie reflektiert ihren Wandel von der Revolutionärin zur Unterdrückerin, vermag sich aus dieser Spirale jedoch nicht zu befreien. Ihre Geschichte weckt Erinnerungen – an die Erschießung des Ehepaars Ceausescu, der zunächst ein Staat folgte, indem die alten Mitglieder der Securitate wieder den Ton angaben, und an manche Staaten Nordafrikas, in der die demokratische Revolution des Arabischen Frühlings nur neue diktatorische Regimes hervorbrachte.

Ein wenig aus der Reihe fällt die vierte Geschichte, die Umbdenstock ausschließlich vom Band spielen lässt und die die Form eines Verhörs hat. Ein fundamentalistischer Attentäter hat einen Anschlag auf ein Jugendparlament verübt. Unter anderem hat er hat einem Mädchen in die Stirn geschossen, das in der Schule ein Projekt zur Eingliederung islamischer Flüchtlinge leitete. Die Tat ist widerlich und empörend. Sie erinnert an Anders Breiviks Anschlag auf das sozialdemokratische Jugendcamp auf der Inseln Utøya. Aber es war eine Tat aus Überzeugung – und zwar eine vorbereitete, nicht eine spontane wie beim Tank Man: „Ihr Tod ist nicht umsonst gewesen“, sagt der Fundamentalist: „Ich töte für das Europa, an das ich glaube.“ Die abscheulichste Tat in diesem Stück ist diejenige, die aus Überzeugung geschah – und sie ist letztendlich die einzige, die für den Protagonisten erfolgreich war.

So erleben wir denn in Chris Thorpes Stück Helden, Überzeugungstäter und Versager wider Willen. Gleichzeitig beschwört der englische Dramatiker alle möglichen Anlässe für die typische German angst: Er lässt in unserer Phantasie Situationen entstehen, in die involviert zu werden zwar extrem unwahrscheinlich ist, die aber bei vielen unserer Menschen geradezu traumatische Ängste hervorrufen. Thorpe tut das zu Beginn seines Stückes auf geradezu kryptische, wenn auch von Anfang an düstere Art und Weise. Die vier Geschichten haben keinerlei Berührungspunkte, aber jede einzelne wird nur mit wenigen Sätzen angerissen, bevor die Erzählung auf die nächste Geschichte schwenkt. Die einzelnen Passagen werden zudem nicht chronologisch erzählt; es mischen sich Fakten und Reflexionen. Das macht den ersten Teil des Abends schwierig, denn man begreift keine Zusammenhänge. Erst nach und nach nehmen die einzelnen potentiellen Zwischenfälle Gestalt an, und die Atmosphäre des Stückes wird dichter.          

Die Schauspieler agieren in der betont sachlichen, kargen Inszenierung des Freien Werkstatt Theaters sehr zurückgenommen. Aktionen auf der Bühne gibt es kaum, sieht man einmal von der „Explosion“ einer Wundertüte ab. Die Schauspieler treten vor, wenn sie an der Reihe sind, und gehen wieder nach hinten, wenn sie schweigen. Sie vermeiden es, Partei zu ergreifen, und befinden sich damit im Einklang mit den Intentionen ihres Autors. Das Bühnenbild skizziert mit wenigen Strichen eine Baustelle: Absperrband, ein paar rostige Träger eines angedeuteten Gerüsts – that’s all. Darüber aber rotiert gelegentlich eine Diskokugel – die Schauspieler tanzen dann zu Techno-Rhythmen. In diesen Momenten wird der grausame Text aus dem Verhör des Attentäters eingespielt.

Thorpes Text, der hier so sachlich über die Rampe kommt, hat große lyrische Qualitäten: Die englische Presse hat das Stück als „poetry play“ bezeichnet. Diese Poesie vermag die Inszenierung nicht zu vermitteln. Marius Bechen wirkt im Bemühen um zurückgenommenes Spiel ein wenig zu blass. Am charismatischsten verkörpert Charlotte Krenz die Rolle der zur Ministerin gewandelten Freiheitskämpferin auf dem Balkon. Ihre Figur schreibt sich dem Gedächtnis des Zuschauers am nachhaltigsten ein, auch wenn man der zierlichen jungen Schauspielerin die Rolle der kampferprobten Politikerin mit dem revolutionären biografischen Hintergrund nicht so recht abnehmen mag.

Catherin Umbdenstock hat vor exakt zwei Jahren am Schlosstheater Moers einmal ein Stück inszeniert, das in seiner Struktur und seinen Inhalten, aber auch in der Form der Inszenierung Parallelitäten zu Thorpes Möglicherweise gab es einen Zwischenfall aufwies. Für Simon Stephens Pornographie hatte sie damals die stärkeren Schauspieler zur Verfügung, so dass die Aufführung im Langzeitgedächtnis verankert ist. Trotz der genannten Einschränkungen hat Umbdenstock auch dem im Jahre 2013 beim Edinburgh Fringe Festival uraufgeführten Text von Chris Thorpe nachdrücklich Geltung verschafft. Das fulminante Ende der vier Geschichten vermag auch das Kölner Schauspieler-Team beeindruckend herauszuspielen. Ein lohnender, noch lange nachdenklich stimmender Abend.