Dem Affen Zucker gegeben
Das irgendwie üppige, aber melancholische musikalische Leitmotiv dieser Aufführung begleitet auch das allererste stumme Bild. Es weckt Hoffnungen und Erwartungen auf eine einfühlsame, vielschichtige Aufführung, und es passt optimal zu dem morbiden Charme des Salons, in dem sich Thomas Vinterbergs Kommune einnisten wird. Der Raum atmet die Atmosphäre verblichenen Großbürgertums. Abblätternde Tapeten, zerbrochene Fensterscheiben, abgedeckte Möbel lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass die Zeit der Bourgeoisie vorüber ist. Erek, der Erbe der morschen Idylle, ist Architekt, und vermutlich wäre er finanziell in der Lage, den bürgerlichen Lebensstil, den die Villa zu verlangen scheint, weiterzuführen. Doch wir sind in den frühen 70ern des vergangenen Jahrhunderts, und da war sowas nicht cool: Avancierte 68er demonstrierten, wenn sie nicht gleich auf Umsturz aus waren, Freiheit des Geistes und alternative Lebenseinstellung als Kommunarden. Für die Jüngeren unter den Lesern: Eine Kommune war so etwas wie ein Mehrgenerationenhaus ohne Alte, aber mit Sex, Drugs und Rock’n Roll. Für die Älteren ist sie eine Erinnerung an die goldenen Zeiten, als es hieß: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“ Das tabulose Liebesleben blühte, der Liebe aber tat das nicht immer gut. Und den Kindern auch nicht.
Auch Thomas Vinterberg, dänischer Dogma-Filmer und Urheber der unvergesslichen Familien-Karambolage Das Fest, die in zahlreichen Inszenierungen auch im Theater reüssierte, genoss die Freiheit, Verrücktheit und Tabulosigkeit des Kommunen-Lebens, und in einem im Bielefelder Programmheft abgedruckten Interview mit dem „Tagesspiegel“ preist er diese Zeit noch immer. Die Figuren seines Stücks Die Kommune sind liebevoll gezeichnet, doch zeigt sein komödiantischer Text, dass er sich des zerstörerischen Potentials dieser Lebensform für die Familie und die Gemeinschaft durchaus bewusst ist. Erek, der nicht zufällig auch die zweite Silbe seines Vornamens mit -e- schreibt, ist verheiratet mit der verantwortungsbewussten, jedoch etwas herben Anna, schlägt aber der stets basisdemokratisch über jeden Kaffeelöffel abstimmenden Wohngemeinschaft im Beisein seiner Gattin eines Tages die blutjunge Emma als neues Kommunen-Mitglied vor. Die wirkt wesentlich normaler als die restliche durchgeknallte Combo, ist aber Ereks Geliebte. Man ist tolerant und nimmt sie auf, was erwartungsgemäß zu manchen Turbulenzen, aber auch zu tiefen Verletzungen führt. Als man zur Rettung der Gemeinschaft Emma den Auszug aus der Kommune nahelegt, pocht Erek auf seine Rechte als Hauseigentümer.
Ende Kommune, Anfang Diktatur? Na ja, auch nicht so recht. Das Stück tritt eine Weile mächtig auf der Stelle, zumal die Inszenierung die politischen Skurrilitäten der Kommunarden-Philosophie und ihre Parallelen zur heutigen ideologieblinden veganen „kräutermilden Bionade-Bourgeoisie“ (um den Kollegen Gerhard Preußer zu zitieren) nicht verfolgt, sondern sich auf die zwischenmenschlichen Missverständnisse beschränkt. Bei denen handelt es sich eigentlich um Tragödien; in Michael Heicks‘ Inszenierung werden sie aber veralbert oder verjuxt.
Man ahnt das leider schnell nach der hoffnungsvollen stummen Ouvertüre. Susanne Schieffer als 15jährige Tochter Freja ist einer der Lichtblicke der Aufführung, und auch Guido Wachter als Erek und Carmen Priego als Anna zeichnen Charaktere, die man halbwegs ernst nehmen kann. Doch als bereits im 2. Bild Oliver Baierl als Ole die Bühne entert (unter begeisterten spitzen Schreien aus den hinteren Reihen des Parketts!), ahnen wir, dass wir uns an diesem Abend auf den Boulevard verlaufen haben. Seine lächerliche Frisur und Kostümierung im Stile eines 70er-Jahre-Kleinstadt-Gigolos werden im Verlauf des Abends zum Sinnbild dafür, wie schnell eine Komödie, so well-made sie auch sein mag, in Albernheit verrutschen kann. Nach und nach werden uns die Personen vorgestellt, die sich (sämtlich erfolgreich, wenn auch nicht immer unumstritten) als Mitbewohner der Wohngemeinschaft bewerben. Schauspielerisch machen die das samt und sonders prima - ob einem die von der Regie vorgegebene Typenzeichnung zusagt, ist eine andere Frage. Dem Rezensenten wuchs zu diesem Zeitpunkt Christina Huckle als ideologisch abgedrehte Ärztin und Vegetarierin Ditte ans Herz, denn sie ist wortkarg und bewahrt sich ein Geheimnis - eine Wohltat in der aufgedrehten und ranschmeißerischen, stets auf billige Lacher zielenden Inszenierung. Ein Genuss ist es aber vor allem, Jakob Walser als französischem Hippie-Musiker Virgil zuzusehen, der es als einer der wenigen versteht, die Comedy intelligent und mit einem Schuss Absurdität anzulegen.
Vinterbergs Stück ist kein Meisterwerk. Aber es bietet genügend Gelegenheit, der Komödie ein paar Takte Absurdes Theater hinzuzufügen oder sie in Erschrecken kippen zu lassen. Manchmal beschleicht den kritischen Zuschauer das Gefühl, dass Heicks dies erkannt hat, aber er nicht den Mut hatte, dem amüsierwilligen Publikum solche Stimmungswechsel zuzumuten. Das Treffen der Nackten hat Potential: Freja ist erstmals vollkommen alkoholisiert von einer Party heimgekommen, Anna weint und sehnt sich nach Sex mit ihrem längst in Emmas Zimmer umgezogenen Verflossenen - und alle vier treffen sich zufällig völlig unbekleidet vor dem Badezimmer. Für kurze Zeit erstarren alle nahezu stumm in der Erkenntnis ihres familiären Desasters. Die Szene müsste nachdenklich, trostlos gespielt werden. In Bielefeld berührt sie uns kaum. Erek demütigt Anna mit einer Ohrfeige im Beisein seiner Geliebten. Das ist krass - doch die Inszenierung kennt kein Innehalten in ihrer Gefallsucht. Ein einziges Mal nur erreicht der Abend eine dichte, geradezu erschütternde Ernsthaftigkeit. Es ist der Moment, in dem die vollkommen betrunkene, am Boden zerstörte Anna mit ihrer (sehr vernünftigen, von Laura Maria Hänsel überzeugend gespielten) Rivalin über ihre Sehnsüchte spricht. Auch dem Ende ist zumindest eine gewisse Nachdenklichkeit nicht abzusprechen. Wir wollen es nicht verraten.
Ansonsten gibt Heicks einem recht klischeebeladenen Dramen-Text mit noch mehr Klischees Zucker. Er weiß: Der Menge gefällt, was auf den Marktplatz taugt. Der Jubel war groß und die Repertoire-Vorstellung ausverkauft. Kritiker, halt’s Maul: Jedes Theater braucht seine Cash Cows.