Die Physiker im Bonn, Theater

Oder im Aquarium

In Bonn in der Fußgängerzone / gleich hinter den Mauern der Stadt / steht eine Nervenklinik / wie sie noch keiner gesehen hat. Sie liegt - Traum oder Fake, Schutz oder Fragilität - in einer wunderkitschigen Schneekugel. Kurz gerührt und geschüttelt, schweben dichte Flocken herab, die jeden ICE der Deutschen Bahn unverzüglich zum Stillstand bringen würden. Vorn hängt der Strick von der Decke, mit dem gerade Schwester Irene aus Siegburg erdrosselt wurde, und hinten blicken wir auf ein Schweizer Bergpanorama, dem zur Perfektion nur noch die lila Kuh fehlt. Ein schwarzer Pool auf der Bühne lässt keinen Insassen trocken, und aus dem Hintergrund erklingt Panflöten-Musik. Mit einem tollen, absurden Bild eröffnet Simon Solberg seine Inszenierung von Friedrich Dürrenmatts Die Physiker.

„Die ganze geistig verwirrte Elite des Abendlandes“ sitzt am Tisch in den Godesberger Kammerspielen. Einstein, Newton und Möbius werden zum Essen, zur Hygiene, zur Spieltherapie gerufen. Und drah‘ di net um, der Kommissar geht um: Manuel Zschunke als Ermittler war schon bei geschlossenem Vorhang aus dem Publikum aufgetreten und hatte den Tatort beschrieben. Denn Einstein und Newton haben ihre (jeweiligen!) Krankenschwester ermordet. Wer Friedrich Dürrenmatts Drama in der Schule gelesen hat, weiß noch: Die dritte Krankenschwester - die von Möbius - wird auch noch dran glauben.

Das ist leider unvermeidlich, weil die drei Damen sonst den Bekloppten auf die Schliche gekommen wären. Denn die Wahrheit ist: Die drei von Dürrenmatt durchaus als schrille Typen gezeichneten Männer sind alles andere als verrückt. Möbius glaubt, die sogenannte „Weltformel“ entdeckt zu haben, die, wenn sie in falsche Hände geriete, zur vollständigen Vernichtung der Welt genutzt werden könnte. Er gibt den Geistesgestörten, um dieses Wissen zu schützen und nicht an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Einstein und Newton sind Vertreter der Geheimdienste aus West und Ost, die versuchen, dem Forscher seine Erkenntnisse abzujagen. Die echte oder inszenierte Anbahnung einer Liebesgeschichte zwischen den jeweiligen „Patienten“ und ihren Pflegerinnen führt zur drohenden Enttarnung der Wissenschaftler, so dass die Damen beseitigt werden müssen. Letztendlich aber stellt sich heraus, dass es doch eine Verrückte in dieser Klinik gibt: Es ist die Chefärztin Mathilde von Zahnd, die sich längst der Forschungsergebnisse von Möbius bemächtigt hat und mit ihnen die Weltherrschaft erringen will. Um einer Verhaftung aufgrund der begangenen Morde zu entgehen, sind die Wissenschaftler nun gezwungen, weiter als „Verrückte“ in der Klinik zu bleiben, während die geistesgestörte Ärztin das gefährliche Weltvernichtungsinstrumentarium in den Händen hält.

Dürrenmatts Stück entstand im Jahre 1961/62, also auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. In Form einer Groteske setzt es sich mit der Frage nach der gesellschaftlichen und politischen Verantwortung der Wissenschaft auseinander. Gleichzeitig ist es eine Warnung vor der Zuspitzung und der Moralfreiheit politischer Konflikte. Vor dem Hintergrund der verantwortungslosen und undiplomatischen Rhetorik mancher durchgeknallter Staats-Chefs scheint das Stück heute wieder an Relevanz zu gewinnen: Wenn Donald Trump dem Little Rocket Man aus Pjöngjang die vollständige Vernichtung androht und Letzterer den geistesgestörten Greis und senilen Amerikaner sicher und endgültig mit Feuer bändigen will, würde man die zwei gern im Irrenhaus „Les Cerisiers“ eingesperrt wissen. Dürrenmatts Groteske bedienen sie mit ihrem Auftreten perfekt.

Auch Simon Solberg setzt in seiner Inszenierung am Theater Bonn voll auf die Groteske - oft sogar auf reine Komödie. Wie wir es von diesem Regisseur gewohnt sind, strotzt seine Inszenierung vor phantasievollen Bildern und Ideen. Leider fällt der überbordenden Phantasie der warnende politische Inhalt zum Opfer. Es ist nicht so, dass Solberg diesen nicht inszenieren wollte; er setzt sich nur gegen die vielen ablenkenden Gags und die humoristischen Kabinettstückchen nicht durch. Die Inszenierung gerät daher deutlich schwächer als die gegenwärtigen Düsseldorfer Arbeiten des Regisseurs (Orestie - siehe hier, und Das Käthchen von Heilbronn - siehe hier) und wohl auch als Solbergs hochgelobter (allerdings nicht von theater:pur) Woyzeck am Theater Bonn (siehe hier), den der Rezensent leider nicht sehen konnte. Aber sie verfügt über einen ausgesprochen hohen Unterhaltungswert, den man dem inzwischen ein wenig altbacken daherkommenden Drama nicht mehr zugetraut hätte.

Glenn Goltz als Beutler alias Newton, Holger Kraft als Ernesti alias Einstein und Sören Wunderlich als Möbius sind vielleicht nicht irre, aber irre Typen: Einstein geigt seinen Hintern und schwebt auch schon mal kopfüber durch die Winterwunderkugel, Newton ist mal ein Fliegenfänger, mal eine Star-Wars-Figur, und wenn er nicht hier ist, ist er auf dem Sonnendeck oder halbnackt im Aquarium. Ab und an wird eine gigantische Tablette durchs Bild geschoben - und mit dem Pool auf der Bühne, bei dem kein Schauspieler trocken bleibt korrespondieren die Bilder von Wasserwerfern und Krawallen beim Hamburger G20-Gipfel. Auch vor billigen Kalauern hat Solberg keine Angst: Der ermittelnde Kommissar witzelt: „Ich möchte hier nicht noch einmal auftauchen“ und springt ins Wasser. Ganz allerliebst geraten Möbius‘ geschiedene Frau Lina Rose nebst ihren drei Jungs, alle in schrillem Gelb gekleidet und begleitet von Frau Roses neuem Gatten, einem wahren Waldschrat von Missionar mit „Atomkraft - nein, danke“-Button. Kanzler Kohl taucht als ägyptische Mumie auf, Börsendaten flimmern über einen Bildschirm, ein Sternenhimmel und die bedrohten Planeten bedecken die Schneekugel - und wenn Möbius schließlich von seiner Entdeckung und den damit verbundenen Gefahren berichtet, erleben wir ein Feuerwerk am Firmament, Bilder von Armut, Müll und Explosionen und einen Münchhausen auf einer Kanonenkugel, der wohl eher die Menschheit auf der davonfliegenden Erdkugel verkörpert.  

Diese Assoziationsgewitter kennen und lieben wir ja bei Solberg, und manchmal wirkt das Ganze so verrückt und durcheinander als wären wir auf der Demenzstation im Altenheim. Aber zu „Überforderungstheater“, bei dem das Drama kaum wiederzuerkennen sei, wie ein lokaler Theaterkritiker mäkelte, wird die Inszenierung nicht. Im Gegenteil: Solberg inszeniert die Geschichte weitgehend originalgetreu und sogar halbwegs chronologisch. Wir folgen dem Geschehen gern und amüsiert, denn es birgt ja permanent Überraschungen - solche made by Dürrenmatt und solche made by Solberg. Aber die Komödie am Anfang gelingt Solberg besser als die Dystopie am Ende. Solberg kriegt zum Schluss nicht mehr die Kurve zur drohenden Apokalypse. Sophie Basse als Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd lässt zwar im Zusammenhang mit ihrer Demaskierung als die eigentliche Verrückte im Stück auch ein wenig Gefährlichkeit aufblitzen, aber eine politische Botschaft erreicht den längst vergnügt nach absurden Bildern jagenden Zuschauer nicht. Wenn man denn also mäkeln will, kann man zu dem Schluss kommen: „Gewogen und zu leicht befunden.“ Lustig war’s trotzdem.