Stützen der Gesellschaft im Schauspielhaus Düsseldorf

Psychogramm einer Gesellschaft

Henrik Ibsens Gesellschaftspanorama Stützen der Gesellschaft aus dem Jahr 1877 ist das erste große Stück des Autors, das bis heute nichts von seiner Aktualität verloren hat. Einem Spiegel gleich führt es politische Seilschaften vor, wankelmütige Moralisten und den unbeschwerten Umgang mit der Doppelmoral. Heuchelei, Lebenslügen und Selbstgerechtigkeit werden angeprangert. Eine gesellschaftliche Analyse, die scharf und erschreckend aufzeichnet, wie wirtschaftliche Interessen ein Gewissen langsam zu ersticken drohen.

Karsten Bernick ist der erste Mann des Ortes. Als Konsul wacht er über die politischen Entscheidungen einer norwegischen Kleinstadt. Als Werftbesitzer ist er der größte Arbeitgeber und gleichzeitig der einflussreichste Bürger der Stadt. Sein Name gilt als Symbol der Rechtschaffenheit und seine Frau und sein Sohn als Vorzeigefamilie. Unter dem Mantel der Souveränität schlummern jedoch ein dunkles Geheimnis und die eine oder andere Korruption. Das Eisenbahnprojekt, das die Stadt schon lange plante, hat er nicht ganz uneigennützig verhindern bzw. in seinem Sinne abändern können. Die Arbeitsbedingungen auf der Werft entsprechen nicht dem Standard und die überstürzte Auswanderung der eigenen Verwandtschaft vor 15 Jahren ließ den einen oder anderen Zweifel zurück. Die unerwartete Rückkehr aus Amerika, sowohl seiner einstigen Jugendliebe Lona als auch des jüngeren Bruders seiner Frau, konfrontieren den Erfolgsmenschen Bernick mit einer schon fast vergessenen Schuld. Die Lebenslügen des Konsuls drohen aufgedeckt zu werden.

Tilmann Köhler inszenierte dieses Stück mit einer nach wie vor hochaktuellen Thematik auf bestechende Weise. Dank eines sehr schlichten Bühnenbildes (auf das noch einzugehen ist) und der Konzentration auf den reinen Text des Autors, ohne überflüssige Bezüge zu heutigen Fakten, gelang ihm ein eindrucksvoller Abend.

Zu Beginn ist die Spielfläche - in ihrer Mitte ein schwarzes Quadrat - an drei Seiten von schlichten weißen Stühlen begrenzt. Diese werden nach und nach in verschiedener Anordnung auf die sich fast immer drehende Spielfläche (geht es doch um das Thema Wirtschaftswachstum) gestellt, mal zu einem „Berg“ angehäuft, dann chaotisch verteilt oder in Reih und Glied aufgestellt. Die Schauspieler haben oft Mühe, sich auf diesem Perpetuum mobile zu halten. Zuweilen laufen sie auch im Kreis um diesen Mittelpunkt herum - atemlos, suchend, unruhig, wie ein Hamster im Tretrad. Im Mittelpunkt der Inszenierung steht zweifelsohne Christian Erdmann als Konsul Bernick. Facettenreich mal den agilen Geschäftsmann gebend, der alle Fäden in der Hand hält, dann zuweilen aggressiv gegenüber seiner Frau Betty (Judith Bohle), die er nur wegen ihrer Erbschaft geheiratet hat, oder gegenüber seinem Sohn Olaf. Steffen Lehmitz gibt ihn als aufmüpfigen Teenager mit Indianerschmuck, der Reißaus vom Elternhaus nehmen will. Yohanna Schwertfeger spielt die Lona als selbstbewusste Frau im Cowgirl-Look, kommt sie doch aus Amerika zurück. Florian Lange überzeugt als Johan, Bettys jüngerer Bruder - eine ehrliche, aber verletzliche Haut, einst ein guter Freund Bernicks. Andrei Viorel Tacu ist der dienstbeflissene Lehrer, der in dieser rücksichtslosen Geschäftswelt nur die Nebenrolle eines moralischen Feigenblattes spielt: „Sie müssen die Gesellschaft sauber halten.“ Gelungen der Einfall, ihn zu Beginn die Textanweisungen des Autors zum Spielort vortragen zu lassen: „geräumiges Gartenzimmer in Konsul Bernicks Haus.“

Zum Schluss hebt sich die Spielfläche, die Stühle fallen zu Boden. Konsul Bernick schwebt hoch im Raum, was an eine Jesusfigur am Kreuz erinnert. Er gesteht in einem späten Anfall der Einsicht sein Streben nach Macht, Einfluss und Reputation. Eine überraschende Wendung. Olaf richtet eine Pistole auf seinen Vater. Es bleibt offen, ob er letztlich schießt. Ein starkes Schlussbild sicherlich. Anlass für Diskussion auf jeden Fall.

Insgesamt ein spannender Abend, der trotz einiger weniger Längen zum Nachdenken anregt. Und was kann man mehr von einem Theaterabend erwarten?