Übrigens …

Tod eines Handlungsreisenden im Theater Gütersloh

Melancholie und Gesellschaft

„Sometimes I feel like a motherless child…“. Es ist eine verlorene Stimme, die scheinbar weit aus dem Off zu uns herüberklingt. Das US-amerikanische Spiritual ist in der Zeit der Sklaverei entstanden, und es wird zu einer Art Leitmotiv von Robert Borgmanns Inszenierung. Den Protagonisten von Arthur Millers Tod eines Handlungsreisenden kann man durchaus als einen alternden, scheiternden Sklaven des Kapitalismus betrachten. Doch Borgmann setzt einen anderen Schwerpunkt. Er inszeniert eine gescheiterte Liebesgeschichte zwischen Vater und Sohn, zwischen Willy und Biff Loman. Er setzt damit an bei der Interpretation von Elia Kazan, dem Regisseur der Uraufführung aus dem Jahr 1949, der in dem Stück, wie er in einem Brief an Arthur Miller schrieb, „das Ende einer tragischen Liebesgeschichte“ sah: „Ohne dass Biff Willy liebt und Willy Biff liebt, gibt es keinen Konflikt… Das ganze Stück ist über Liebe… Liebe und Wettbewerb.“ Auch die unerwiderte Liebe von Biffs Bruder Happy zu seinem Vater stellt Borgmann mit aller Konsequenz aus: Happy stößt beim Vater auf totale Nichtbeachtung. 

Beide, Willy und Biff, stehen hilflos und hoffnungslos vor ihrer gescheiterten Liebe, ihren gescheiterten Erwartungen und ihren gescheiterten Lebensentwürfen - verloren wie elternlose Kinder. Peter Kurths Outfit versinnbildlicht das hoffnungslose Kind, als sich nach langen Minuten der Vorhang öffnet: Der massige Mann steht mit unbekleidetem Oberkörper im bis unter die Schultern hochgezogenen schwarzen Tüllröckchen vor uns. Kurths fast schon transvestitisches Kostüm wirkt jedoch nicht albern oder lächerlich, sondern zutiefst traurig und melancholisch. Lomans auf dem nackten Bühnenboden schlafende Ehefrau Linda, verkörpert von Susanne Böwe begrüßt ihn - müde, zart, resigniert, wissend. Kurz darauf hören wir ein Auto in den Straßengraben rauschen. - Diese Anfangs-Szene wirkt wie eine Traumsequenz, wie ein ins Irreale überhöhtes Resümee der Geschichte des Handlungsreisenden, der sich nach jahrelangem Scheitern endgültig der Lächerlichkeit preisgegeben sieht und schließlich im Selbstmord endet.

Der Ton ist gesetzt für diesen Abend - ein Ton von Depression und Verzweiflung, aber auch von großer Empathie für die Hauptfiguren des Stücks. Der Sound, teils live und teils von Band performt von Sven Michelson und Philipp Weber, trägt das Seinige dazu bei - stille, manchmal sehnsüchtige Melancholie, atmosphärisch düstere, zehrende Elektro-Rhythmen, die sich gelegentlich zu heftigen Stürmen zu steigern vermögen. Irgendwie ist das alles eine Variation über „Melancholie und Gesellschaft“. Denn natürlich handelt auch Borgmanns Inszenierung vom Ende einer gesellschaftlichen Utopie - vom Ende des amerikanischen Traums, vom Untergang des Sozialen in der Sozialen Marktwirtschaft. Später, nach der Pause, wenn der Gegensatz zwischen Willys kraftlosem Niedergang und den angeblich unbegrenzten Möglichkeiten im gelobten Kernland des Kapitalismus in schrillere, härtere Bilder gekleidet wird, sehen wir Cheerleader und American Football Player in einer „DESIRE“-Revue - Biffs Sehnsucht nach einer Laufbahn als Football-Star ist bekanntlich an der Endstation angelangt, bevor sie begonnen hat. In der gleichen Leuchtschrift, in der dieses „DESIRE“ auf der Revue-Bühne prangt, leuchtet auf der Rückwand ein spiegelverkehrtes „CAPITALISM“ auf. Der Kapitalismus schafft Begierden, doch für Willy und seine Familie bleibt die Erfüllung ihrer Lebensträume unerreichbar. Und nicht nur für sie, sondern für viele „kleine Leute“: Ein Familienbild der Protagonisten wird auf die Bühne projiziert, doch die Menschen darauf tragen keine Gesichter: Die Lomans dieser kapitalistischen Welt bleiben anonyme, austauschbare Figuren. Und wenn nicht, so muss Loman erkennen: „Ich bin eine äußerst groteske Gestalt“ - dann steht er da wieder, barfuß im Tüllrock, mit regungslosem Trauerkloß-Gesicht.  

Bildstark ist diese Inszenierung, auch wenn ihr Timing nicht immer perfekt ist. Borgmann erweist sich wieder einmal als Regisseur, der viele geniale Ideen hat, aber manchmal zu viel will. Vor allem nach der Pause ist es bisweilen mühsam, in Borgmanns Assoziationsgewitter den roten Faden zu finden. Doch in schmerzhaften Bildern werden das Scheitern des Vaters und der Söhne vorgeführt - in rasanter Steigerung. Wenn der meist nicht an der Rampe, sondern im hinteren Teil der Bühne schwingende rote Vorhang sich öffnet, taucht Willy in die Vergangenheit hinab. Dann erlebt er Träume, Alpträume und Halluzinationen. Und jedes Mal kommen die Einschläge näher: Willy wird immer heftiger konfrontiert mit seinem und Biffs Versagen - und mit seiner eigenen Schuld am Niedergang des vielversprechenden Stammhalters: Willys heimliche Geliebte lugt nackt hinterm Vorhang hervor. Birgit Unterweger ist für die traurige, manchmal auch freche, herausfordernde Erotik in der Inszenierung zuständig. Schmerzhaft ist die Szene, in der sie schamlos die für Vater und Sohn erniedrigende Entdeckung ihrer sexuellen Beziehung zu Willy genießt und vor dem schockierten Sohn posiert. Später wird der Soundtrack Töne produzieren, die wie Einschläge klingen: Es sind die Stürme in Willys Hirn, als er noch einmal realisiert, dass Biff sein Leben und seine Motivation in dem Moment aufgegeben hat, als er den Vater mit der Geliebten erwischte. Nicht von ungefähr ist es Birgit Unterweger, die auch die groteske Marilyn-Monroe-Sexpuppe in Howards Büros spielt, während Loman seinen Chef um Entlastung und Unterstützung bittet: Gnadenlos wird Willy von Howard und dem Sex-Roboter aus einem Rollstuhl gekippt - in den Orkus, der den Losern des kapitalistischen Systems gebührt.   

Borgmann verwöhnt oder verwirrt den Zuschauer noch mit vielen anderen Assoziationen - überzeugenden und banalen, intelligenten und platt holzhammermäßigen. Die meisten gehören zu den Höhepunkten der Inszenierung. Ein imaginiertes Zusammentreffen zwischen Willy und seinem erfolgreichen Bruder Ben, der aussieht wie Edgar Hoover, wird zu einem clownesken, aber tieftraurigen Zwischenspiel. Später taucht Robert Kuchenbuch im George Washington Outfit auf; stark verlangsamt singt jemand Johnny Cashs „There’s a man going round taking names“. Doch ins Buch des Lebens wird hier allenfalls Willys Ehefrau Linda geschrieben, die sich mit ihrem Schicksal arrangiert. Die anderen Mitglieder der Familie Loman stehen längst im Buch der gescheiterten Träume.

Zuletzt brechen alle Illusionen zusammen - selbst die Konstruktion, die die Illusionsmaschine Theater zusammenhält: Übrig bleiben auf einer nackten Bühne lauter verlorene Gestalten in Schwarz und Grau. Nur Birgit Unterweger läuft Rollschuh - eine einsame Eisprinzessin. Von fern sehen wir ein Feuerwerk - ein Fest der Freude bei den Menschen, die den amerikanischen Traum leben können, ein unerreichbares, unendlich einsames Bild für die Protagonisten. Loman bleibt allein im Licht auf sonst schwarzer Bühne. Sometimes he feels like a motherless child. Das Ende ist dann doch wieder: Melancholie und Gesellschaft.