Übrigens …

Bash im Köln, Schauspiel

Sympathische Leute

Was war das für ein Knalleffekt, mit dem Neil LaBute im Jahre 2001 die deutschsprachige Bühnenlandschaft betrat! Ausgerechnet der große Meister Peter Zadek nahm sich des hierzulande noch wenig bekannten Autors von kurzen, maliziösen well-made plays an. Bash - Stücke der letzten Tage wurde unter seiner Regie zum Sensationserfolg. Judith Engel erhielt für ihre Rollen in zwei der drei Einakter den Eysoldt-Ring, die größtmögliche Auszeichnung für eine deutschsprachige Theaterschauspielerin; die FAZ widmete ihr eine komplette Feuilleton-Seite, und die „Latter Day Plays“ wurden zum wichtigsten ausländischen Stück des Jahres gewählt. Der Mormone Neil LaBute aber flog aus der „Church of the Latter Day Saints“, die nicht akzeptieren konnte, dass so sympathische, freundliche Mitglieder ihrer Kirche mir nichts, dir nichts aus Langeweile, Übermut oder zufälliger Gelegenheit zu Mördern werden konnten. Der Dramatiker aber avancierte zum Renner auf allen Theaterbühnen, bei Stars und Talenten, in der Provinz und im Zentrum.

Mittlerweile ist es um Neil LaBute wieder ruhiger geworden. Das mag damit zusammenhängen, dass seine Texte im Grunde alle nach dem gleichen Muster gestrickt sind. Es handelt sich um scheinbar harmlose, nette kleine Hörspiele, die ganz zum Schluss eine plötzliche, erschütternde Wendung nehmen. Diese Wendung eröffnet einen erschreckenden Blick auf die Motivationsstruktur des Menschen und macht unter der freundlichen Oberfläche oder der Maske des Opfers eiskalte Kalkulation und gnadenlose Menschenverachtung sichtbar. Aber wäre der Erfolg des Dramatikers an den seriösen deutschen Bühnen in gleichem Maße eingetreten, wenn nicht Peter Zadeks ungeheuer präzise Schauspieler-Führung LaButes Deutschland-Debüt Bash zu einem fulminanten Theater-Ereignis gemacht hätte?

Seit Samstag sprechen alle Indizien dafür. Denn das Schauspiel Köln nähert sich der Angelegenheit vom unteren Ende der theatralen Erfahrungs-Skala: Mit Nele Cleo Liekenbrock gibt eine junge Assistentin in der „Werkstück“-Reihe ihr Regie-Debüt. Sie inszeniert die drei Einakter in der winzigen „Grotte“ - in dem Übersee-Container unter künstlichem grünem Hügel, der gerade mal 50 Zuschauer fasst. Mit Nils Hohenhövel besetzt sie eine der drei Rollen durch einen blutjungen Schauspielschüler. Und die Zuschauer halten den Atem an wie einst bei Zadek. Denn mehr als 16 Jahre nach der deutschsprachigen Erstaufführung wirken die Texte so frisch wie eh und je.

Als da sind: „Iphigenie in Orem“. Ein junger Vater berichtet vom Erstickungstod seiner wenige Monate alten Tochter. Und: „Eine Meute von Heiligen“. Ein verliebtes Paar reist zu einer Party nach New York, wo John im Park auf ein Schwulen-Paar trifft. Zuletzt: „Medea redux“. Eine immer noch junge Frau erzählt von ihrer fortdauernden Liebe zu einem Lehrer, der sie im Alter von 14 Jahren verführt hat. - Iphigenie? Medea? Heilige? Können die kleinen, sprachlich scheinbar ganz einfach gestrickten Stückchen einer griechischen Tragödie oder einem religionskritischen Essay das Wasser reichen? Muss LaBute nicht an solchem Anspruch… ja: an solcher Hybris scheitern?

Ganz beiläufig beginnt der junge Mann auf dem Platz neben mir zu erzählen. Sekt haben wir bekommen beim Einlass, und die angesprochene Dame vor mir fragt den sie anbaggernden Achour: „Wollen Sie einen Schluck?“ – Der Schauspieler antwortet: „Nee, ich trinke nichts. Aber man soll nichts umkommen lassen…“ - Ist das grandios extemporiert oder für alle Eventualitäten eingeübt? Natürlich trinkt der Mormone nichts - alle Figuren in den drei Einaktern gehören der Kirche der Heiligen der letzten Tage an. Und natürlich soll man nichts umkommen lassen. Schon gar nicht seine wenige Monate alte Tochter. Das aber ist dem jungen Wirtschaftswissenschaftler widerfahren. Gelassen erzählt er das, bisweilen sogar mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Nur einmal wird er laut und emotional: als er von der kalten, ehrgeizigen Emanze berichtet, die im Zusammenhang mit der kürzlichen Umstrukturierung seines Arbeitgebers auch seine Konkurrentin um die verbleibenden Jobs war. Die Frau, fachlich besser als er, wie er selbst zugibt, hat das Rennen verloren. Denn der junge Mann bekam den Mitleids-Bonus, nachdem Emma erstickte. Er hat sie nicht selbst getötet. Er hat nur zugesehen - und ein wenig nachgeholfen. Er hat Emma geopfert wie Agamemnon seine Iphigenie. Nicht für gute Winde, nicht für ein übergeordnetes Staats-Ziel - nein, aus reinem Eigennutz. Und weil der Zufall ihm zu Hilfe kam. - Unmerklich, nur mit kleinen stimmlichen und gestischen Nuancen macht Achour deutlich, wie sich Druck aufbaut, doch triumphierend bricht aus ihm heraus, wie er die unsympathische Konkurrentin besiegt hat. Die ist auch uns unsympathisch geworden. Achours Figur dagegen mögen wir. Der junge Mann strahlt. Er ist glücklich mit seiner Frau Deborah und zwei weiteren Kindern, eines davon gezeugt in der Nacht nach Emmas Tod. Er ist ein durch und durch sympathischer Mann. - Uns graust‘s.

Und wir wenden uns John und Sue zu. Beneidenswert: Die kennen einander seit sechs Jahren, und sie flirten und schäkern miteinander wie am ersten Tag. Sie erzählen von der Party der Gemeinde, für die sie eigens nach New York gereist sind. Was für ein sympathisches Paar! Gut, John hat den vorherigen Freund von Sue ziemlich brutal zusammengeschlagen, aber erstens ist das sechs Jahre her und zweitens war da ja längst nichts mehr zwischen Sue und ihrem Ex. In New York geht John mit Tim und Dave in den Park und beobachtet dort ein schwules Paar beim Liebesakt. Mormonen sind konservativ - so war es bei Johns Vater, der dessen lange Haare nicht mochte, und so ist es bei John, der Schwule nicht mag. Beiläufig, wie der Ton halt ist an diesem Abend, freundlich lächelnd erzählt das sympathische Babyface Nils Hohenhövel, wie er den Schwulen, der ihn an seinen Vater erinnerte, totgeschlagen hat. Freund Tim, Pfarrer der Heiligen der letzten Tage, tropft noch ein wenig Öl auf die Leiche und spricht einen Segen. John, der andere Heilige, ein echter Schwiegermutter-Liebling, entwendet seinem Opfer noch den Ring, den es am Finger trägt, und genießt das Frühstück mit Sue. Inzwischen sind die beiden verlobt. Der Ring ist schön; er war halt nur ein wenig zu weit. „Don’t know why there’s no sun up in the sky“, pfeift Hohenhövel und leitet damit elegant zur dritten kleinen Geschichte über.

In „Medea Redux“ können wir uns erneut verlieben in einen dieser sympathischen jungen Menschen. Genau genommen, konnte man sich in Annika Schillings Figur schon immer verlieben. Ihr Lehrer hat das getan, als sie 13 war. Mit 14 bekam sie von ihm ein Kind. Das Klaustrophobische des Kölner Grotten-Containers passt eigentlich hervorragend zu dieser empörenden Missbrauchs-Geschichte, doch why worry? Die junge Frau liebt ihren Lehrer immer noch. Allerdings hat der sich gleich, nachdem er von seiner Vaterschaft erfuhr, davongemacht. Ganz legal: Er ließ sich in einen anderen Bundesstaat versetzen. Rührend naiv, entzückend natürlich spielt Annika Schilling ihre fortgesetzte Liebe zum entschwundenen Lehrer. Als ihr Sohn Billie - so getauft nach des Lehrers musikalischer Muse Billie Holiday („Don’t know why there’s no sun up in the sky“) vierzehn Jahre alt wird, reist die junge Frau zu ihrem mittlerweile verheirateten Lehrer und stellt fest: „Er liebte das Kind, aber er war auch zufrieden. Weil er ungestraft davongekommen war.“ - Vielleicht ist das der Moment der Erkenntnis für die junge Frau, vielleicht hat sie aber auch die Erinnerung an leidenschaftliche Küsse und den Vergleich mit Billie Holiday nicht mehr ertragen („so etwas sagt man nicht zu einer Frau, sonst gehört sie einem ein Leben lang“): Als ihr Kind in der Wanne sitzt und die Jazz-Sängerin hört, lässt sie jedenfalls den Kassettenrekorder in die Badewanne fallen. Medea rächt sich am Geliebten, indem sie sein Kind tötet. Und ihrs - aber das ist im Moment der Rache zweitrangig.

In dem Moment, in dem Billie den Stromschlag erleidet, geht im Kölner Container die Klimaanlage aus. Es wird totenstill; in den Ohren spüren wir einen Druckabfall. Das Wort, das der Lehrer ihr im Alter von 13 beigebracht hat, fällt der jungen Frau wieder ein: „Adakia - die Welt ist aus dem Lot.“ Aus dem Lot ist sie im Jahre 2017 mehr denn je, mehr als im Jahre 1999, als LaBute sein Stück geschrieben hat. Genusssucht, gepaart mit Gefühllosigkeit sind in weiten Teilen der jungen (und nicht nur der jungen) Bevölkerung weiter verbreitet denn je. Zufällige Morde, Tötungen, die man hinnimmt, weil sie einem nutzen, mögen die Ausnahme sein, aber wie viele dieser Fälle kommen nie ans Tageslicht? (Auch in LaButes Stück ist die junge Mutter die einzige, die am Ende für ihren Mord bestraft wird.) Und wenn wir einmal ganz tief, ganz ehrlich in uns gehen - wie viele solch unbotmäßiger Gedanken haben wir eigentlich selbst schon einmal gehabt? Ein zufälliger Tod eines Angehörigen oder eines Mitmenschen würde doch manches Problem lösen, oder? - Vom Gedanken zur Tat ist es manchmal nur ein kleiner Schritt, zumal wenn der Zufall die Gelegenheit zur Ausführung liefert. Irgendwie beschleicht uns das Gefühl, Bash sei heute aktueller als je zuvor.