Gertrud im Bochum, Schauspielhaus

Frau Grollfeuers unerfüllte Sehnsucht

In der Mitte der Bühne befindet sich eine braune Schräge mit einem sargähnlichen Aufsatz. Zu ihren ersten Sätzen tauchen die drei Schauspieler abwechselnd hinter dieser Konstruktion auf. Sie geben ihren Körper nur bis zum Oberkörper frei. Es ist, als sprächen die Gespenster der Vergangenheit. Gertrud ist die Erinnerung des legendären, im Jahre 2001 im Alter von nur 57 Jahren verstorbenen Theater-Berserkers Einar Schleef an seine Mutter, der er in einem mehr als 1000 Seiten starken Roman ein Denkmal setzte. Es ist eine Hommage - aber eine schonungslose, unerbittliche. Und doch zugleich eine sehnsuchtsvolle: Zeitlebens hat der im Alter von 33 Jahren aus der DDR geflüchtete Schleef, dem seine Mutter die Republikflucht nie verziehen hat, unter dem ambivalenten Verhältnis zur Mutter und zu seiner provinziellen Heimatstadt Sangerhausen gelitten. Man sollte ein wenig von diesen Hintergründen sowie über den Autor Einar Schleef wissen, um Jakob Fedlers Inszenierung schätzen zu können. In der einstigen Hauptstadt der DDR ist Schleef jedoch scheinbar vergessen. Denn die Mehrzahl der Berliner Theaterkritiker nörgelte über die Mitte Dezember am Deutschen Theater erfolgte Premiere. Zu Unrecht. Denn die Aufführung ist nicht nur großartiges Schauspielertheater, sondern sie steigert sich in der zweiten Hälfte des Abends auch zu einem erschütternden Psychogramm - von Gertrud, aber auch von Einar.

Irgendwie ist der Text auch ein historischer Rückblick auf ein bewegtes Jahrhundert. „Meine Kindheit fiel ins Kaiserreich, der Sportplatz in die Weimaraner, die Ehe auf Hitler und das Alter in die DDR“, wiederholt Gertrud mehrfach während der Aufführung. Ein schwieriges Leben für eine Frau, die sich mit Flexibilität schwertat, von der aber ständig Anpassung an neue, nicht allzu glückliche Lebensumstände gefordert wurde und die dadurch zu einer wahren Frau Grollfeuer wurde. Regisseur Jakob Fedler hat den monologartigen Text auf drei Personen verteilt. Lockvogel für das Publikum ist Wolfram Koch, ein genialer Schauspieler, der gleichzeitig eine hohe Identifikation sowie eine ironische Distanz zu seinen Figuren aufzubauen versteht. Darüber hinaus teilen sich die reife Almut Zilcher und die erst 29jährige Antonia Bill die Rolle der Getrud. Alle sind in gleichartige, wenig schmeichelhafte olivgrüne Kostüme mit einer Art Koppel um die Hüfte gekleidet, die fast wie Militäruniformen wirken. So war Mutter Gertraudis ja wohl auch: Disziplin ging über alles, hart war sie gegen sich selbst und gegen andere - und doch voller unerfüllter Sehnsüchte.

Sohn Einar mag sich in diesem Charakter wiedererkannt haben. Thomas Bischoff, von dem manche sagen, er sei der legitime Erbe von Schleef, hat den Text in etwas anderer Fassung im Jahre 2003 am Düsseldorfer Schauspielhaus angerichtet - mit Anke Hartwig als dem versteinerten Monument einer nach außen unerschütterlichen, nach innen zutiefst leidenden Frau. Das war unvergesslich, restlos überzeugend und so erschütternd, dass die drei Bochumer Helden ein wenig Schwierigkeiten haben, gegen das knorrige Vorbild im Gedächtnis des Rezensenten anzukommen. Wolfram Koch im Damensattel - da ist die Distanz zur Rolle höher als die Empathie. Altersgebeugt steht er da, mit misanthropischem Blick - doch stets auch mit ironischen Kabinettstückchen, mal powackelnd, mal schalkhafte Blicke werfend. Was er tut, ist gewöhnungsbedürftig, aber gelungen: Großartig verbindet er das Misanthropische der Figur mit der einen oder anderen komödiantischen Geste. Manchmal aber unterlaufen ihm und der Regie überflüssige Peinlichkeiten, die Lacher aus den unteren Regionen des Humors generieren: Gefühlt minutenlang windet sich Koch am Boden, um, wie Gertrud derb bemerkt, sein Arschloch sehen zu können. Antonia Bill, wiewohl sie meist die Rückblenden in Gertruds Jugend spricht, wirkt lange Zeit zu jung für die Rolle, Almut Zilcher manches Mal zu weich. Es dauert eine Weile, bis die Tragik der Figur und die Hassliebe des Sohnes zu seiner Mutter deutlich werden.

Dabei haben die Sätze, die die drei Akteure zu sprechen haben, die übliche Gertrud’sche Härte: „Dekoration ist nichts für mich“: Fünf Worte, und die Figur ist umfassend charakterisiert. Gertrud ist unversöhnlich, schonungslos auch sich selbst gegenüber. Kurz, knapp und klar in der Sprache: „Wo keine Verständigung möglich ist, nützt keine Sprache.“ Und: „Ich will keinen Dienstboten zum Sohn … Muss nicht im Westen leben, im Land der Dienstboten.“ Almut Zilcher steht mit pathetischer Geste auf dem Sargdeckel, wenn sie diese Polemiken spricht. Später blickt sie einmal aus dem geöffneten Sarg, während ihre Gertrud sich in der gefühlten Ausweglosigkeit ihres Lebens verliert: Das hat geradezu Beckett’sche Qualitäten. Solche eher statischen Szenen entfalten meist größere Wirkung als die lebendigen, die manchmal nur ins Hampeln ausarten.

Aber es gibt Gegenbeispiele. Je länger die Aufführung währt, desto beklemmender wird sie. Der emotionale Höhepunkt gehört Antonia Bill. Gertrud berichtet von ihrer ersten großen Liebe - der Liebe ihres Lebens? Gertrud Schleef geborene Hoffmann war tatsächlich einst Deutsche Jugendmeisterin im 100-Meter-Lauf, und sie verliebte sich in einen anderen jungen Sportler. Sie wird eingeladen zu einer Feier bei Hennings Eltern; sie hofft auf eine Verlobung. Doch nach dem Besuch drohen die wohlhabenden Eltern ihrem Sohn an, ihn zu enterben, wenn er sich mit der ungelernten Schneiderin abgibt. Antonia Bill läuft und läuft und läuft, immer um den Sarg herum „bis zur Deutschen Meisterschaft.“ Und sie beginnt zu weinen. Zutiefst berührt kämpft auch der Zuschauer mit den Tränen.

Liebe und Sexualität sind, wie wir vermuten, für Gertrud etwas Unaussprechliches gewesen - Fremden gegenüber. In ihrem inneren Monolog jedoch kommt sie immer wieder auf ihre sexuellen Sehnsüchte zu sprechen, so schonungslos wie verzweifelt: „Ich bin läufig“, sagt die Frau, die ab ihrem 63. Lebensjahr als Witwe allein lebte. Ihr Mann war bereits lange vor seinem Tod kränklich; die Ehe mit Wilhelm gestaltete sich schwierig und war sexuell wenig erfüllend: „Sieben Tage die Woche zugeklebte Schenkel!“ Doch ihrer Sehnsucht nach einer Beziehung stand ihre Härte, ihr Groll, ihre Unfähigkeit zu positivem Denken entgegen. Und doch hofft und leidet der Zuschauer mit ihr, wenn sie von ihrer kurzen Altersliebe zu einem verheirateten Nachbarn erzählt, die so abrupt und verletzend endet, als hätte es schon damals Handys gegeben, mit Hilfe derer man per SMS Schluss machen kann.

Immer wieder thematisiert Gertrud ihre Einsamkeit, gegen die sie mit einer Flucht in den Eskapismus und ins allzu Individualistische ankämpft. Vorwürfe an ihren Sohn, der in den Westen ging und sich nur sehr sporadisch zu Hause meldete, sind scheinbar an Einar Schleef abgeprallt. Doch mit seinem Roman hat er auf sie geantwortet und wohl auch eigene Schuldgefühle verarbeitet. Er ist ein monumentales Denkmal für eine einfache, alltägliche Frau geworden, die man, wenn man ihr einmal in der Literatur oder im Theater begegnet ist, nicht vergessen kann. Zunächst Almut Zilcher, zunehmend auch den beiden übrigen Akteuren gelingt es in der nicht chronologisch, sondern - analog zum Roman - zwischen den Zeiten und den Themen hin und herspringenden Aufführung, die Tragik dieser Figur deutlich zu machen. Gertrud wird mehr und mehr von Ängsten vor dem Verfall von Körper und Geist geplagt. In ihren Gedanken sieht sie Willi, ihren Mann, der sie ruft - vielleicht auf die andere Seite des Lebens, in den Tod, der für diese einsame Frau eine Erlösung darstellen könnte. „Mein Flügel lahmt. Ich zähle die Stunden. Der Zeiger ruckt“, konstatiert Gertrud. „Wann erfasst uns die Woge?“