Der Kirschgarten im Dortmund, Schauspielhaus

Traurige Clowns

Firs brabbelt. Murmelt Unverständliches vor sich hin, formt einen Fluss aus Lauten, die hin und wieder das Wort Paris bilden. Aus der Diktion ist zu entnehmen, dass der Mensch, der da unentwegt schwafelt, unsichtbar noch, nicht gerade bester Laune ist. Firs ist der steinalte Diener in Anton Tschechows Komödie Der Kirschgarten, Lakai auf dem einstmals so mondänen Adelsgut der Madame Ranjewskaja. Ein Untertan, der die Welt nicht mehr versteht und sich selbst vorkommt, als sei er in eine fremde Zeit hineingeworfen. Wie im übrigen auch alle anderen Figuren der Vergangenheit nachtrauern, in der Gegenwart mehr oder minder ziellos herumlaufen, auf der Suche nach alter Würde, nur noch nackte Existenzen.

Als Tschechows letztes Theaterstück kurz vor seinem Tod, 1904 in Moskau, uraufgeführt wurde, hatte Konstantin Stanislawsky, eine der russischen Regie-Ikonen jener Zeit, aus dem Werk eine düstere Tragödie geformt. Alles Komödiantische fiel unter den Tisch, sehr zum Ärger des Autors, der sich manche Szene gar als Farce vorstellte. Und so ist wohl bis heute die Gretchenfrage jeder Deutung: „Wie hältst Du’s mit der Komik“? Der Theaterwissenschaftler Michael Goldman sieht in Charlotta, der Gouvernante mit der Begabung für Zaubertricks und Bauchredekunst, den Schlüssel zur Erkenntnis. Sie sei der Prototyp des traurigen Clowns, der mit mancherlei Schaustückchen vom eigenen Versagen, vom Versuch des Bestehens in der Realität ablenken will. Ein Prototyp für alle anderen Figuren.

Nun hat Sascha Hawemann den Kirschgarten am Dortmunder Schauspiel herausgebracht als ein zutiefst melancholisches Stück, als Kammerspiel in musikalischen Moll-Farben. Dessen Tristesse umso stärker wirkt, weil ihr der Regisseur nicht dralle Komik gegenüberstellt, sondern überspannte Ausgelassenheit. Die durchaus das Clowneske streift, alsbald aber die Traurigkeit berührt, mithin gar in Apathie mündet. Und fürs Publikum werden diese Gefühlsverwirrungen zur unmittelbaren Erfahrung: Im kleinen Studio sitzen wir dem Ensemble, das in einem von Wolf Gutjahr erdachten Geviert, einer Zirkusmanege(!) nicht unähnlich, agiert, beinahe auf den Füßen. Wir sehen Leidensmienen und falsche Triumphgesten aus nächster Nähe, hören schreiende Entäußerungen oder am Ende die metallenen Schläge, dröhnendes Symbol für die im Kirschgarten wütende Axt, die uns ebenso erschüttern wie den alten Firs.

Uwe Schmieder spielt ihn. Nicht als grantelnden, tüddeligen Alten, wie die Anfangssequenz vermuten ließe, sondern als Menschen mit Haltung, der weiß, was sich gehört, wer Herr ist und wer Gescherr. Für den sich das auch im Russland auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert, vierzig Jahre nach Aufhebung der Leibeigenschaft durch Zar Alexander II., nicht geändert hat. „Früher waren die Menschen glücklich“, sagt Firs und redet über die alten Methoden, Kirschen einzukochen. Bei Uwe Schmieder klingt das wie ein trotziger Vortrag und atmet doch die allergrößte Traurigkeit. Zugleich aber gibt der Mime, hier ein verlorener Ritter der aufrechten Gestalt, den Kontoristen Semjon Jepichodow, als tölpelhaften Liebhaber, als Jongleur der permanenten Ungeschicklichkeit. Schmieder baselt durch den Raum, legt sich gediegen aufs Gesäß, klampft auf der Gitarre ein Liedlein für seine Flamme Dunjascha (Marlena Keil als freche, laszive Darstellerin ihrer selbst), und doch ist er, der arme Tropf mit Pudelmütze, keine Lachnummer. Aber einer, der sich die Seele aus dem Leib spielt – weil er’s sowieso nicht anders kann.

Niemand wird hier übrigens von der Regie ins Lächerliche gezogen, vielmehr agieren alle in einer Art Schwebezustand, wagen den Balanceakt zwischen exaltiertem Aktionismus und schmerzvoller Hingabe an die alten Zeiten. Friederike Tiefenbacher als Gutsherrin Ranjewskaja, die Mann und Sohn verlor, mit einem Liebhaber nach Paris floh, von dem aber bloß ausgenommen wurde, wieder daheim vor der Pleite steht, das Gut, also ihr Leben, verkaufen muss, verheddert sich virtuos im Taumel ihrer Gefühle. Merle Wasmuth, als siebzehnjährige Tochter Anja, das Seelchen, fliegt jauchzend am Artistenseil durch die Luft, den Kopf frei für eine schöne Zukunft mit dem Studenten Trofimow (Björn Gabriel gibt ihn als leicht zynischen Wortdompteur in Sachen Antikapitalismus). Doch dieser Fortschrittsgläubige hustet sich nur noch blutspuckend durch die Szene, während Wasmuth im Grunde eine zauberhaft still Leidende ist, der die Kindheit entgleitet.

Das ganze Gegenteil scheint die Adoptivtochter der Ranjewskaja, die gestrenge Warja, von Bettina Lieder als pflichtbewusster Fels in der Brandung gespielt, ordnungsliebend und echauffiert über die Knechte, die sich plötzlich breit machen. Gewiss meint sie damit auch die wunderbare Caroline Hanke in der Rolle der wirbelwindgleichen Gouvernante und Zauberin Charlotta, ein Zirkusprinzesschen der launigen, zugleich melancholischen Art. Aber bei aller Härte hat auch Warja einen immerwährenden Schwachpunkt: Der Kaufmann Lopachin, den sie liebt und der das Gut schließlich ersteigert (Frank Genser gibt ihn als kalten, geldverrückten Angeber), ist unfähig, nur ein Wort herauszubringen, das irgendwie nach Heiratsantrag klänge.

Hier das große Schweigen, dort die exzentrische Schwatzhaftigkeit des Onkels Leonid, den Ekkehard Freye zu einem jovialen Jünger der Dekadenz formt, dort auch das inhaltsleere Plappern des nassforschen Lakaien Jascha (Raafat Daboul wie ein Dandy auf Urlaub). Hier die große Aufregung, dort die eisige Stille, die Regisseur Sascha Hawemann am Beginn der Ballszene in gespenstische Erstarrung transformiert. So ist eine packende, berührende Inszenierung entstanden, die sich den Klischees von Pelzmütze und Wodka virtuos entzieht. Die ziemlich textgetreu und ohne zwanghafte Modernisierung bestes Ensembletheater bietet, sensibelst „orchestriert“ von Alexander Xell Dafov, dem Mann am Klavier, Akkordeon und Sampler. Das Schlusswort aber, wenn alle diesem unglückseligen Ort entfliehen wollen, jedoch  kaum loslassen können, soll Firs gehören, dem im Haus Vergessenen: „Früher waren die Menschen glücklich“.