Von Wurst und Glück und Menschenwürde
Wenn in Österreich was Neues anfängt, erklingt der Donauwalzer. Zum Neuen Jahr zum Beispiel. Im alten erklingt er auch, jedenfalls wenn im Schauspiel Dortmund das zutiefst österreichische „europäische Abendmahl“ des Werner Schwab beginnt, mit dem das Haus nach langem Asyl im Megastore ins angestammte Studio zurückkehrt. Die Szene: ein österreichisches Beisl. Die Figuren: austriakische Unter- und ins Dorftrottelige degenerierte Mittelschicht - eine Personnage, die schon vom Autor ins Groteske, wenn nicht gar ins Verachtenswerte überzeichnet wird. Hinten links „ein schönes Paar“ - Außenseiter in dieser finsteren Dorfgemeinschaft.
Ob Werner Schwab, wie es manchmal heißt, die geistig und kulturell zurückgebliebenen Menschen in seinen Stücken liebte oder ob seine Stücke wie bei dem kultivierteren Thomas Bernhard einen tiefen Hass auf seine Heimat ausdrücken, sei dahingestellt. Fest steht: Werner Schwab kannte das Beisl. Er konnte nach eigener Aussage nur schreiben, wenn er volltrunken war. Dann erfand er diese wunderbare, österreichisch eingefärbte derbe Kunstsprache, die bald als „Schwabisch“ bekannt wurde. Vermutlich stand er gerade vor der Krönung seiner Karriere, als er in der Silvesternacht 1993/94 im Alter von nur 35 Jahren starb. Hätte er sich in dieser Nacht auf seine schriftstellerischen Abwege begeben, wäre fraglos ein Geniestreich entstanden. Denn Schwab hatte einen Alkoholpegel von sage und schreibe 4,1 Promille. Übergewicht, unwichtig: Unform war das dritte von insgesamt sechzehn Stücken, die der Autor in seinem kurzen Leben zusammenbrachte. Johannes Lepper hat ihm in Dortmund im Vergleich zu Hans Gratzers Uraufführung am Schauspielhaus Wien aus dem Jahre 1991 ein wenig vom Ekelfaktor genommen. Dafür hat er es kaum merklich politisch zugespitzt.
Denn inzwischen leben wir auch in manchen Regionen Deutschlands wieder in finsteren Zeiten - nicht nur in mecklenburg-vorpommerischen oder oberbayerischen Provinzdörfern. Rechtsradikalismus und vorurteilsbeladene Stammtischkultur sind auch in Dortmund nicht unbekannt. Und so verlieren wir in Leppers Inszenierung fast den … sorry, liebe Österreicher: Anschluss, weil uns der Satz von Schweindi völlig aus dem Tritt bringt: „Die Welt ist größer als das eigene Land und kleiner als die eigene Heimat.“ Das ist so ein Satz, über den man so lange nachdenkt, dass man vergisst, weiter zuzuhören. Solche kleine Bömbchen stecken häufiger in Schwabs Text, und Johannes Lepper stellt sie hübsch beiläufig aus. Vor allem aber hat der Regisseur das „schöne Paar“ mit der Kamerunerin Edith Voges Nana Tchuinang und dem Syrer Raafat Daboul besetzt. Die Migranten aus heutigen Flüchtlingsländern sind - wiewohl sie in dieser Inszenierung eher wie Touristen als wie Bewohner des Planeten Felix Austria wirken - angekommen in dieser (besseren) Gesellschaft; die dörflichen Ureinwohner können nur neidisch gucken.
Oder sie auffressen. Denn „der Endsieg der menschlichen Vernunft“, von dem Schweindi in der kontaminierten Sprache der Dorfbewohner spricht, hält noch lange nicht „die Türklinke in der siegreichen Hand“. Beim rituellen Abendmahl trinkt das schöne Paar den Wein, und die anderen dozieren über Brot und Wurst („das Würstel als Metapher für eine kulturelle Solidarität“), bevor der Futterneid in den Kannibalismus umschlägt. Das schöne Paar wird in Dortmund nach allen Regeln des Theaterrealismus verspeist. „Unser rotes Brot gib uns heute“, sagt, ein wenig verunsichert, der brutale Karli. „Wir haben nur gejausnet.“ Dumme Raubtiergesichter mit abgenagten Skeletten beschließen den 1. Akt - ein wunderbares Bild.
Ist das nicht unmenschlich? Ist das nicht brutal? Ach was: Der Endsieg der menschlichen Vernunft ist weiter von Schwabs Dramatik entfernt als der Wiederaufbau des absurden Theaters. Das Stück steckt voller schräger Aphorismen und Metaphern - nicht nur in der Sprache. Und am Ende ist es wieder da, das schöne Paar, und erfreut sich in arroganter Überheblichkeit an den „einfachen Menschen“, deren „Primitivität (man) nicht so augenfällig verachten“ sollte. Die Juke Box plärrt „Kein schöner Land in dieser Zeit“.
Johannes Lepper macht aus dem ersten Akt eine wundersame Komödie. Er nimmt sich alle Zeit der Welt, die krude Personnage des Stückes vorzustellen. Der impotente Schweindi und seine wohl auf ewig vergeblich Strampelanzüge häkelnde Gattin Hasi werden von den körperschweren, aber leicht zum Tanz sich wiegenden Andreas Beck und Marlena Keil mit rührender Unbeholfenheit (Beck), kaum verhohlenem Hass (Keil) und latent nationalsozialistischen Sprachverirrungen gegeben. Uwe Rohbeck doziert als Dorflehrer Jürgen verschwurbelt über Wurst und Glück und Menschenwürde und spricht dabei manche bösen, erschreckenden Wahrheiten aus. Wurstfreund Rohbeck ist spillerig und dünn wie ein gekochtes Wienerle, während der massige, mit Hingabe den Brotbegriff erläuternde Beck aussieht wie ein riesiger aufgegangener Brotlaib - schon im Besetzungskonzept glaubt man eine kleine Bösartigkeit zu entdecken. Dorflehrer Jürgens pseudointellektuelle Sprache bricht sich wunderbar in den primitiven fäkalsprachlichen Verrenkungen von Karli und seiner abgehalfterten Sexual-Schabracke Herta: Friederike Tiefenbacher, in sündhaft roten Schuhen und mit leuchtender Blondhaar-Perücke, ist von der maliziösen Dortmunder Kostümerie mächtig auf alt geschminkt. Unerbittlich kloppt sie sich mit ihrem Liebhaber Karli alias Frank Genser, der nur durch Schläge beim Sex einen hoch kriegt. Er, nach eigener Aussage „der größte Depp …, den es auf der Menschenwelt geben kann“, beschreibt sich treffend in seiner Definition von Seele: „Die Seele, das ist, wenn man lachen muss, wenn man einem Menschen beim Sterben zuschaut.“
In solchen Aussagen liegt nicht nur Brutalität und Gefühllosigkeit, sondern eine tiefe, unüberwindliche Traurigkeit. „Wir sind in die Welt gevögelt und können nicht fliegen“ - dieses wohl bekannteste, schönste Zitat aus allen sechzehn Stücken, die Werner Schwab geschrieben hat, ist im Grunde purer in Schwabisch übersetzter Ödön von Horváth: „Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich - aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär‘ man nie dabei gewesen“, heißt es in Horváths Kasimir und Karoline. Schwab hat die Sentenz vom Nicht-Fliegen-Können seiner Fotzi in den Mund gelegt, einer Debilen, die eigentlich Marie-Luise heißt und ihren Nachnamen nicht nennt, weil sie sich dessen schämt. Stattdessen lässt sie sich Fotzi nennen: Dieselbe zeigt sie gern her für eine Münze, die sie in die Juke Box werfen kann. In Dortmund ist auch diese Figur zugespitzt: Christian Freund spielt sie anrührend abtörnend als Transvestiten mit einer voluminösen Schamkapsel in der Hose.
All das wird, wie gesagt, im ersten Akt hochkomödiantisch vor uns ausgebreitet, strukturiert von hinreißend kitschigen Schlagern aus Fotzis Juke Box. Dadurch geht die beim Lesen des Stücks augenfällige blasphemische Variation über das christliche Abendmahl ein wenig unter, aber im Verein mit der gelungenen Feier der Schwab’schen Sprache erhält der bekloppte Text eine skurrile Magie. Lepper setzt keineswegs nur auf billige Lacher. Zunächst unmerklich, dann immer schneller werden die Szenen düsterer, bedrohlicher, und das Unglück der wirtschaftlich und geistig Armen dieser Dorfgemeinschaft tritt zutage - verborgen hinter zynischen Schwab’schen Sentenzen: „… dieses wunderschöne Tötenmüssen, dieses immer wieder aufs Neue alte Maulstopfen der Vernunft durch die Lust am Blut“, jammert Uwe Rohbecks Dorflehrer so verzweifelt wie genüsslich nach dem Mord. Und eben dieser Dorflehrer holt ganz beiläufig ein Stück der im Lande lange schamvoll verschwiegenen Geschichte hervor: „Wir haben erneut versagt. … weil wir abermals aufgefressen haben, was uns zu gut gefallen hat … Irgendwie müssen wir einer jeden Fremdheit den Kragen abschlagen, und nur eine Fremdheit ist eine Schönheit.“ Niemals spricht Werner Schwab den Nationalsozialismus an, aber wer zuhört, glaubt in diesem primitiven Beisl österreichische Geschichte und ihre Aufarbeitung verhandelt zu hören.
Auch die christliche Konnotation wird immer stärker deutlich: Statt über Wurst und Brot verhandelt man im zweiten Akt über Wasser und Wüste, und Friederike Tiefenbacher, deren Herta schon mit jedem geschlafen hat, erklärt sich zur „freigefickten Jungfrau“. Sie sitzt wie eine Madonna auf den Bierkisten, wo sie sich von den auf dem Boden rutschenden Kneipen-Pilgern die Füße küssen (respektive lecken) lässt. Milde beschienen vom ewigen Licht formiert man sich auf den Bierkästen zu einem mittelalterlichen christlichen Gemälde. Und der Dorflehrer hat noch einmal einen hinreißenden, vermutlich unter ganz vielen Schwab’schen Promille entstandenen Satz: „Sehen Sie, sowas ist der Sündenfall. Das ist, wie wenn man im Paradies einen Spaziergang macht, und überall küssen sich die Löwen und Gazellen, aber auf einmal steht man vor einer Bodensenke, die gefüllt ist mit Bierdosen, Wurstzipfeln, Servietten und gebrauchten Präservativen. Und dann wird das ganze Paradies zu einem Picknickplatz mit lauter einheimischen Menschen.“ - Irgendwie ist das auch eine passende Beschreibung von Text und Inszenierung. „Ich will in keine größere Hölle hinein“, dämmert es Karli.
Großer Dank an das Schauspiel Dortmund für die Wiederentdeckung des fast vergessenen Stückes.