The Civil Wars im Köln, Schauspiel

Die Vaterlosen

 Als „Lecture Performance à 4 voix über die Prämissen von Revolte und politischem Engagement” bezeichnet Milo Rau die Aufführung. Sie bildete im Jahr 2014 den Auftakt zu Raus Europa-Trilogie, in der der Regisseur Schauspieler in autobiographisch grundierten, aber künstlerisch überarbeiteten und verfremdeten Texten Geschichten aus ihrem Leben und ihrer Arbeit erzählen lässt und die heutige Lebenswirklichkeit in Europa in Beziehung zu Flüchtlingsschicksalen oder zu Bürgerkrieg und Dschihadismus stellt. Über Empire, den dritten Teil der Trilogie, hat theater:pur bereits anlässlich des Gastspiels der Aufführung bei den Mülheimer „Stücke“-Theatertagen berichtet.

In ihren inszenatorischen Mitteln sind The Civil Wars ebenso karg wie Empire: Die Schauspieler sitzen bewegungsarm in einem altmodischem Wohnzimmer und werden jeweils von einem ihrer Kollegen beim Erzählen gefilmt; auf einer Video-Leinwand über der Bühne erscheint das Gesicht des Erzählenden in Großaufnahme. Zunächst sehen wir im Depot 1 der alten Industriehalle des Kölner CarlsWerks eine Barockbühne mit dem Brabanter Löwen, dem Staatswappen Belgiens, die in der Mitte auseinanderzubrechen droht. Vor einer kleinen Loge hängt ein geraffter Vorhang. Irgendwie kitschig, irgendwie nostalgisch repräsentiert die Bühne die alte europäische Kultur, deren Bedrohung meist unausgesprochen, manchmal sehr konkret im Zentrum dieses Abends steht. Bevor das erste Wort fällt, dreht sich die Bühne um 180° und gibt den Blick auf besagtes Wohnzimmer frei. Es ist ein mehr oder weniger originalgetreuer Nachbau des Wohnzimmers des Vaters von Joris aus Vilvoorde bei Brüssel, einer Stadt mit hohem marokkanischem Bevölkerungsanteil. Vergeblich hat der Vater seinen zur Unterstützung der IS-Kämpfer nach Syrien gereisten Sohn gesucht. „Was veranlasst junge Menschen aus Europa, in einen Krieg zu ziehen, mit dem sie überhaupt nichts zu tun haben?“, fragt er sich voller Verzweiflung. Er ist hinterher gereist, wurde gefoltert, kehrte zurück und will erneut ins Kampfgebiet fahren, um seinen Sohn nach Belgien zurückzuholen.

Der Schauspieler Sébastien Foucault erzählt diese Geschichte als Rahmenhandlung des Abends. Er hat den Vater besucht, und am Ende wird er auch den zurückgekehrten Sohn gesprochen haben. Das Glück des Vaters über die Heimkehr des Sohnes ist trügerisch, wie Foucault erkennt: Joris hat sich niemals von den Ideen des IS distanziert. Er erzählt eine grauenvolle Geschichte aus dem Krieg, will aber immer noch Märtyrer werden. Milo Rau hat selbst lange Jahre im Brüsseler Stadtteil Schaerbeek gelebt, als einziger Nicht-Araber in seiner Straße. In einem Interview mit ZEIT ONLINE berichtet er von den jungen Syrien-Rückkehrern, die nahezu ausschließlich dem Gedankengut des IS verbunden bleiben: „Die Programmierung, auch die Traumatisierung geht zu tief. Zudem war mein Eindruck, dass der soziale Druck in den Vierteln, in die sie heimgekehrt sind, zu groß ist. Sie bleiben Salafisten, auch nach dem Debriefing.“

In fünf Akten erzählen die Schauspieler von den konfliktbeladenen Beziehungen zu ihren Vätern. Nicht alle haben es geschafft, sich rechtzeitig mit ihnen zu versöhnen. Karim Bel Kacem, Spross einer Berber-Familie aus dem marokkanischen Rif-Gebirge, hat seinen Vater, einen Säufer und brutalen Schläger, gehasst. Als Berber gehörte seine Familie zur Unterschicht in Marokko, und nach der Auswanderung nach Europa blieb sie weiterhin Unterschicht, nur anders, brutaler, noch weniger integriert. Aber statt in der Not zum Zusammenhalt zu finden, wird Bel Kacem noch im höchst berührenden letzten Kapitel von Milo Raus Allegorie über die Wunden einer brutalisierten, zusammenhaltlosen Gesellschaft bedauern, dass er den Vater niemals hat leiden sehen. Voller Hass blickt er auf sein Leben und die Gesellschaft. Aber der Vater hat zumindest einmal Gutes getan: Er hat dem pubertierenden Sohn verboten, in die radikalislamische Moschee zu gehen. 

Sébastien Foucault hat sich im Tod mit seinem Vater versöhnt. Dieser war Unternehmer, und nachdem sein Familienunternehmen von einem Konzern übernommen wurde, verlor er zunächst die Arbeit und dann den Halt: Er wurde „so etwas wie ein Hausierer, obwohl er überhaupt nicht lügen konnte“, dann fundamental religiös, dann paranoid und krank. Die Familie Foucault hatte eine diametral andere wirtschaftliche und gesellschaftliche Ausgangsposition als die der Bel Kacems, aber auch sie wurde von den Mechanismen des Kapitalismus aufgefressen und zerstört. Der Vater von Sara De Bosschere dagegen war von Beginn an gesellschaftskritisch eingestellt und stand dem Trotzkismus nahe. Mit 66 Jahren ist er heute an den Rollstuhl gefesselt und blickt voller Resignation auf sein Leben zurück: „Die letzten 35 Jahre möchte ich nicht noch einmal erleben“, sagt er, und De Bosschere resümiert angesichts der Einsamkeit des Alten: „Die Hölle, das ist die Abwesenheit der anderen.“ Niemand kümmert sich, niemand besucht den Vater, der nachts einsam im Rollstuhl sitzt und sich betrinkt. – Nur beim Charismatischsten der vier Akteure gibt es gelegentlich Anlass zum Schmunzeln. Johan Leysen berichtet die nicht minder traurige Geschichte von seinem bereits im Jahre 1959 bei einem Autounfall ums Leben gekommenen Vater mit ironischer Distanz und bitterem Humor. In Leysens Erzählungen wird ein liebenswerter, etwas skurriler Pionier des Fernsehens lebendig: „Die Atombombe kann die Welt vernichten, das Fernsehen kann die Welt retten“, zitiert Leysen seinen Vater, und wir ahnen, woher der Schauspieler selbst seine Fähigkeit zum selbstironischen Blick auf sein eigenes Theaterleben bezieht. Wohltuend ironisiert er anhand von Anekdoten aus seinem Leben das kunstferne Sendungsbewusstsein des linken Theaters der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Wie bei Empire versucht Milo Rau seine Texte durch Bezugnahme auf ein großes literarisches Vorbild zu erhöhen. Bei Empire schwang der Medea-Mythos im Hintergrund mit, bei den Civil Wars wird auf Tschechow Bezug genommen. Auf Die Vaterlosen natürlich, denn um solche handelt es sich ja bei den von ihren Erzeugern Entfremdeten; kurze Szenen aus dem Kirschgarten und aus Onkel Wanja werden angespielt. Zwingend ist das nicht; man könnte es gar als verzichtbar betrachten. Dagegen stellt die unaufdringliche, aber elegische Bühnenmusik einen großartigen Kommentar zu den Geschichten vom Verlust der Väter und der Kultur dar. Leise Barock-Rhythmen von Bach und Pergolesi übernehmen eine ähnliche Funktion wie die altmodische Bühne zu Beginn: Sie erinnern wehmütig an eine vergangene Kultur, die harmonischer schien und in der der Gottesbezug weniger kriegerisch gemeint war als bei Islamisten und Dschihadisten. Erneut spielen Raus Geschichten auf verschiedenen Ebenen: Wie bei seinen Five Easy Pieces streut Rau insbesondere in den Texten von Johan Leysen und Sara De Bosschere ein paar Reflexionen über das Theater ein. Vor allem aber blickt er aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln auf den gesellschaftspolitischen Werteverfall. In individuellen, privaten Geschichten spiegeln sich die großen Konfliktthemen unserer Zeit: Radikalisierung und Raubtierkapitalismus, Ideologisierung und Vereinsamung, Glaubenskämpfe und Nihilismus. Und hatten wir bei Empire noch kritisiert, dass das ausschließliche Mittel einer großformatigen Übertragung von Gesichtern auf eine Leinwand zu wenig für einen Theaterabend sei, stellt sich die Frage der Angemessenheit dieses reduzierten Stils bei Civil Wars nicht. Die brillanten Schauspieler wecken große Empathie und gestalten einen spannenden, hochrelevanten Theaterabend.