Opfer und Täter
Über 50.000 der 76.000 Einwohner jüdischen Glaubens waren bereits liquidiert, als die übrigen im Wilnaer Ghetto zusammengepfercht wurden. Joshua Sobol nimmt das als Ausgangssituation für sein Stück Ghetto und geht der Frage nach, wie war „Leben“ unter diesen Bedingungen möglich? Wie interagieren die Überlebenden mit den Besatzern? Vor allem aber - viel brisanter - der Frage nach jüdischer Mitschuld am Holocaust. Sobol gründet Ghetto auf historische Fakten, erzählt frei die Geschehnisse von 1942 bis September 1943.
Vier Charaktere stellt er in den Mittelpunkt: Johannes Langer ist Weiskopf, ein Schneider, der im Ghetto eine traurige, kurze Turbokarriere hinlegt vom Schneider zum „großkopferten“ Fabrikanten. Bei Langer ist jeder Schweißtropfen echt beim Katzbuckeln vor der SS, aber auch jede eiskalt angestellte betriebswirtschaftliche Rechnung, mag sie auch auf Kosten von Menschenleben gehen. Und Weiskopfs Schweißtropfen gelten dem SS-Offizier Kittel, den Bernd Reheuser gibt, wie wir alle KZ-Befehlshaber in vielen Darstellungen erlebt haben - scheinbar freundlich, um von jetzt auf gleich menschenverachtend brutal zu werden. Und da ist Gens, jüdischer Leiter des Ghettos, der bereit ist, Leben zu opfern, um andere zu retten. Er lässt Alte und Kranke in den sicheren Tod gehen, um die Chance zu haben, andere zu retten. Die immer mehr zu Tage tretende Ähnlichkeit mit Kittel kann Jürgen Lorenzen ebenso fantastisch beglaubigen wie die Zweifel an seinem Tun und dem daraus resultierenden Lebensüberdruss. Hermann Kruk (aufrichtig und geradeheraus von Heiko Grosche interpretiert), Sozialist und Bibliothekar und Gutmensch weiß, dass man bei jedem Kompromiss dem Täter ähnlicher wird, sagt: „Auf dem Friedhof spielt man kein Theater“. Und das zu Recht, denn SS-Mann Kittel ist ein „kulturbeflissener“ Deutscher, der, auch wenn es verboten ist, Musik und Theater will in „seinem“ Ghetto. Er will Kultur, also bekommt er sie.
Und deshalb gibt es Musik, viel Musik, sehr viel Musik. Ein Stück über den Holocaust mit Musical-Charakter und jiddischen Liedern? In der Tat. Vieles erinnert an eine Nummern-Revue. Und das mag Peter Zadek 1984 gereizt haben, Ghetto als Europäische Erstaufführung an der Volksbühne Berlin zu inszenieren. Ist Musik, ist Freude angesichts des Todes erlaubt? Die Frage, die Zadek noch mit Provokation beantworten musste, stellt sich für Meinhard Zanger 34 Jahre später nicht mehr. Denn seit den 1970er Jahren hat sich die Auseinandersetzung mit dem Holocaust breit in der Gesellschaft verankert. Das weiß auch Zanger und deshalb legt er in seiner Inszenierung den Schwerpunkt auf die Entwicklung der Charaktere. Das tut er fein, leise, genau und mit Präzision. Und die Musik? Die gehört zum Leben wie zum Tod. Das macht vor allem Jannike Schubert als Sängerin Chaja klar (Schubert ist ein musikalisches Schwergewicht, das sich Zanger da für sein Ensemble gesichert hat und ein Pfund darstellt, mit dem das Borchert-Theater wuchern sollte) - aber auch der Extra-Chor des Gymnasiums Paulinum Münster (Einstudierung Margie Sandhäger und Susanna Schmitz) und die großartigen Musiker Manfred Sasse und Lasse Kiesow. Und so fügen sich unter der umsichtigen Leitung Meinhard Zangers alle Elemente zu einem nicht schockierend-provokativem, aber eindrücklichen Abend zusammen.
Wie wichtig solche Abende sind, zeigt sich direkt vor Ort in Münster dann, wenn die AfD-Ratsfraktion dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Münster Sharon Fehr quasi „undeutsches“ Verhalten vorwirft. Der lautet dann so: „Es wäre wahrscheinlich auch zu viel verlangt, von Ihnen zu erwarten, dass Sie die große Sorge um unser deutsches Vaterland mit uns teilen. (...) Wahrscheinlich genießen Sie den schleichenden Verfall eines Landes, welches Sie verachten!“ Geht’s noch?