Make Love, Not War
„Der Christ, der Soldat, der Mann ohne Geist!“ So wird der Jude Jehuda Ibn Esra in einem Moment der Bitterkeit den Herrn, dem er dient, charakterisieren. Und genau so sieht Stefan Schleue als König Alfonso von Kastilien aus. Ein ehrpusseliger Kleingeist ist er bisweilen, ein Macho ohne Weitblick, ein Krieger - schlimmer noch: ein Kriegslüsterner. Die Weisheit, mit der ihn Rahel konfrontiert, will ihm nur schwer ins Hirn: „Eine Unze Frieden ist mehr wert als eine Tonne Sieg.“ Wie bitte?
Längst hat sich Alfonso in die schöne Jüdin verliebt. Unendlich zärtlich ist ihre von Stefan Schleue und Alina Wolff pantomimisch dargestellte erste erotische Begegnung. Denn dieser König hat noch eine andere Seite als die kriegerische. „Eines gibt es, das jede Erniedrigung wert ist, und die ewige Verdammnis hinzu: die Liebe!“, erkennen beide. Sie sprechen den Satz im Chor, und das wäre ein schönes Happyend. Doch im Rheinischen Landestheater Neuss ist erst Pause. Der Krieg wird die Liebe vernichten - und Rahel wird getötet werden.
Rahel, Die Jüdin von Toledo, ist die Tochter von Jehuda. Dessen Nachname Ibn Esra deutet auf eine Verbindung zum Islam. Tatsächlich lebte Jehuda unter dem Namen Ibrahim als reicher Kaufmann und Berater des Emirs im von den Mauren beherrschten Sevilla. Dort war er gezwungen, den muslimischen Glauben anzunehmen. Um seinen jüdischen Glauben wieder leben zu können, tritt er in die Dienste des katholischen Königs Alfonsos von Kastilien, der einen Feldzug gegen den Emir vorbereitet und später mehrfach am Rande eines Krieges gegen Aragon steht. Kastilien liegt wirtschaftlich darnieder; der kluge und weitsichtige Jehuda kann lange einen Krieg verhindern, indem er dem König aufzeigt, dass der Frieden zu wirtschaftlicher Erholung führen wird. Alfonso verliebt sich in die schöne und gebildete Rahel; er lässt sein Lustschloss Galiana restaurieren und fordert, dass Rahel dort als seine Nebenfrau wohnen soll. Jehuda bleibt nur, diesem Wunsch zu entsprechen oder zu fliehen. Rahel, bereits fasziniert von Alfonso, zieht in die Galiana und verliebt sich ihrerseits in den König, der für die Dauer einiger Jahre sowohl seine Kriegslust als auch seine Ehefrau Leonore vergisst: „Sieben Jahre blieb der König eingeschlossen bei der Jüdin.“ Geradezu eskapistisch lebt das Paar die Utopie einer Welt ohne kulturelle und religiöse Grenzen. Doch immer wieder brechen Momente der Fremdheit auf, die im Extremfall sogar in körperliche Gewalt münden. Derweil lenkt Jehuda die Geschicke von Wirtschaft und Staat geschickt und auf Ausgleich bedacht, wenngleich nicht ohne Eitelkeit und eigene Machtinteressen. Doch politische und militärische Entwicklungen, befördert von der Eifersucht Leonores, erfordern den erneuten Kriegseintritt Kastiliens. Übermütig zieht Alfonso auch gegen die übermächtigen Moslems in die Schlacht, in der er vernichtend geschlagen wird. Gegen den immer mächtiger gewordenen Jehuda formiert sich Widerstand in der Bevölkerung; er und Rahel werden - nicht zuletzt aufgrund einer Intrige Leonores - ermordet.
In Neuss spielt man nicht das gleichnamige Drama von Franz Grillparzer, sondern man hat eine Spielfassung auf der Basis des Romans von Lion Feuchtwanger erarbeitet, der den historischen Ereignissen aus dem 12. Jahrhundert relativ exakt folgt. Feuchtwangers jüdischer Herkunft und seinem Einsatz für die Schaffung eines jüdischen Staats entsprechend, werden die Juden durchweg hochherzig, aber nicht mit blinder Identifikation gezeichnet. Jehuda ist einerseits ein wahrer Nathan, bemüht um den Ausgleich zwischen den Religionen, widerwillig angepasst einst in Sevilla, jetzt dienend dem christlichen König und stets darauf bedacht, neue Kriege, die ja auch Religionskriege waren, zu verhindern. Andererseits ist dieser Jehuda auch ein Machtmensch, und im Machtpoker ist er Alfonso um Längen überlegen. Cleverness, fast ein wenig Verschlagenheit hat Joachim Berger im Blick, als er sich Alfonso andient und ihn von einem friedlichen Kurs überzeugt - die prosperierende Wirtschaft Kastiliens fördert auch seine Macht und seinen Wohlstand. Berger, der aus dem durchweg überzeugenden Neusser Ensemble als charismatische Persönlichkeit herausragt, gibt den weitsichtigen, unprätentiösen Strategen zum Wohle des Staates; nur in wenigen Momenten bricht sich die - nachvollziehbare - Eitelkeit Jehudas Bahn.
Dessen Tochter Rahel ist zunächst hin- und hergerissen zwischen ihrer ehemaligen - erzwungenen - muslimischen und ihrer neuen jüdischen Identität, um sich dann mehr und mehr dem Christen hinzugeben. Zunehmend steht für die moderne Frau die Liebe im Vordergrund; religiöse Hindernisse versucht sie gar nicht wahrzunehmen. Sie vergleicht das Frauenbild im muslimischen Sevilla (heiter und selbstbewusst) und im katholischen Toledo (verschüchtert); ebenso die Kirchen, düster und abweisend, die so licht und hell waren, als sie noch als Moscheen fungierten.
Ganz im Sinne Lessings und der neuen Aufklärung nach Ende des „1000jährigen Reichs“ pocht der Jude Feuchtwanger auf Integration und Gleichwertigkeit der drei Haupt-Religionen und berührt damit aktuelle politische Themen. Das von den Moslems beherrschte Andalusien stand im 12. Jahrhundert an der Spitze der wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklung. Hochaktuell wirkt daher die Warnung von Alfonsos christlichem Beichtvater Rodrigue an den muslimischen Vertreter Musa: „Seitdem die Moslems alles Wissen, das nicht aus dem Koran stammt, für Ketzerei erklärt haben, ist eure Wissenschaft im Abstieg.“ Welch wahrer Satz in Zeiten zunehmenden fundamentalistischen Terrors! - Doch der Aktualitäten sind noch mehr: Jehuda wirkt darauf hin, dass Kastilien 6000 verfolgte Juden aus Frankreich als Flüchtlinge ins Land lässt. Der christliche Politiker Alfonso und sein Volk haben Angst vor den „Scharen von Bettlern und Armen“, vor dem Fremden, der Parallelgesellschaft, den Wirtschaftsflüchtlingen. In 900 Jahren haben wir nichts hinzugelernt.
Das alles ist, wie unschwer zu erkennen, ein komplexes Drama. Um die Zusammenhänge verstehen zu können, bedarf es eines langen historischen Rückblicks, währenddessen die anspruchsvolle Neusser Aufführung bisweilen ein wenig statisch wirkt. Michael Meichßner, der auch die Rolle des Rodrigue spielt, und Andreas Spaniol, der den muslimischen Arzt Musa gibt, übernehmen an den Mikrofonen am rechten und linken Bühnenrand die Rollen des Erzählers, wobei auch die übrigen Darsteller teilweise aus ihren Rollen aussteigen und Feuchtwangers Prosa-Texte sprechen. Feuchtwangers Sprache bringen die Schauspieler wunderbar zum Klingen. Zunehmend entwickelt die Aufführung Spannung und in ihren besten Momenten sogar eine sogartige Kraft. Dazu trägt die geschickt eingesetzte kontemplative, bisweilen suggestive Musik von Tobias Schütte wesentlich bei. Grau dagegen sind Politik und Staatsgeschäfte: Die Bühne besteht aus einer grauen schrägen Ebene mit ebenfalls blaugrauen Platten unterschiedlicher Größe als Rückwand, auf die der Kaufmann und Stratege Jehuda auch schon mal seine Kalkulationen notiert. Doch wenn sich Alfonso und Rahel ins Lustschloss zurückziehen, kommt Farbe in die Angelegenheit: Zwei Bodenbretter werden aufgeklappt, und es entsteht eine kuschelige Liebesgrotte in zartem, rotgoldenem stilisiertem Blumenmuster. Dort kann Alfonso, wie Rodrigue es mit beißendem Spott ausdrückt, „verstrickt in die dritte Todsünde“ vor den Staatsgeschäften fliehen. Überhaupt Rodrigue: Michael Meichßner, der Beichtvater im schwarzen Umhang, gibt der Figur etwas Filouhaftes, Spöttisches, Schlagfertiges und damit der durchaus anstrengenden Inszenierung eine kleine Prise Humor. Ausgerechnet er ist es, der am Ende versucht, den in einen sinnlosen Krieg ziehenden Alfonso zur Raison zu rufen, doch „im Gesicht des Königs spiegelt sich nur noch die schiere Lust am Dreinhauen und Zerstören.“ Grandios gelingt der chorisch vorgetragene Kriegsbericht am Ende: Mit großer Intensität verdeutlicht der rein sprachliche Bericht das Grauen der Schlacht.
Toledo wird nach verlorenem Krieg von Flüchtlingen überlaufen und beinahe zum „failed state“. Der Mob stürmt die Galiana und tötet Rahel und Jehuda. Den Kampf der Liebe gegen die Staatsraison hat die Unvernunft gewonnen. Wir denken an Schiller: „Herrschsucht zertrümmert die Welt in ein rasselndes Kettenhaus. Liebe träumt sich in jede Wüste. - Lass uns fliehen!“