Übrigens …

Ein Volksfeind im Oberhausen, Theater

Manipulation im Rockkonzert

Schon im Foyer begegnet man Menschen in Bademänteln und superknappen Badehosen. Beim Einlass räkeln sie sich im Halbdunkel des gedimmten Saallichts auf einem langen Steg, der von der Bühne quer durchs Parkett geht. Eine Band spielt Carole Kings „You’ve got a friend“. Jürgen Sarkiss ist Bürgermeister Peter Stockmann. Im Business Suit wirkt er seriös, durchaus sympathisch und vertrauenerweckend - nicht wie diese windigen Schauspieler, denen wir sonst auf der politischen und der Theaterbühne begegnen. Peter Stockmann besucht seinen Bruder. Der Zuschauer weiß nach der ersten Szene zweierlei. Erstens: Das Kurbad boomt; die Badegäste fühlen sich wohl. Zweitens: Mit „You’ve got a friend“ ist es nicht allzu weit her.

Denn die Atmosphäre zwischen dem Bürgermeister und seinem Bruder Thomas ist angespannt. Dabei ist noch kein Wort gefallen über dessen fatale Entdeckung: Badearzt Dr. Thomas Stockmann hat Krankheitserreger im Wasser des Kurbads gefunden. Und los geht das Gezänk um Geld oder Moral: Wird die Nachricht über das kontaminierte Badewasser veröffentlicht oder wird sie mit Rücksicht auf das finanzielle Wohlergehen der Stadt verschwiegen? Die Honoratioren und Meinungsmacher der Stadt, Buchdrucker Aslaksen sowie die Redakteure des „Volksboten“ Hovstad und Billing schlagen sich zunächst auf die Seite des Badearztes. Als der Bürgermeister die finanziellen Konsequenzen für die Stadt, die Steuerzahler, die Arbeitsplätze und damit sehr direkt auch die Bürger der Stadt aufzeigt, wendet sich die öffentliche Meinung schnell gegen den unbeugsamen Badearzt, der kurzerhand zum Volksfeind erklärt wird. Die Manipulation der öffentlichen Meinung, das Spiel mit „Fake News“ ist hochaktuell in diesen Zeiten. Die Medien, die wir heute gegen Trump und Co. verteidigen möchten, sehen bei Ibsen tatsächlich schlecht aus: „Die öffentliche Meinung, die Hausbesitzer bestimmen das Gesicht der Zeitung“, sagt Aslaksen.

Da trifft also der Opportunismus der Bürgerschaft auf das pflichtbewusste Moralempfinden des Badearztes, der nur noch bei Kapitän Horster Rückhalt findet. In Florian Fiedlers Oberhausener Inszenierung, einer völligen Neubearbeitung seiner elf Jahre alten Arbeit vom Schauspiel Frankfurt, scheint Thomas Stockmann im Konflikt mit seinem Bruder von Beginn an auf verlorenem Posten zu stehen. Sarkiss ist als Bürgermeister aalglatt und skrupellos, ein geschickter Demagoge. Im Machtkampf geht er berechnend und kopfgesteuert vor. Vor allem aber ist er eine gestandene Persönlichkeit mit souveränem Auftreten. Auch wenn gelegentlich mahlende Kiefer seine Gefährlichkeit verraten, verliert er niemals die Contenance. Clemens Dönickes Badearzt dagegen ist alles andere als ein Stratege. Dönicke legt seine Figur als etwas naiven, aufgeregten Gutmenschen mit mittelmäßigem intellektuellem Hintergrund an, ist eher junger Heißsporn als erfahrener Polit-Profi. Ein Underdog halt, der harsche Reaktionen seines Bruders geradezu herausfordert: „Als Angestellter hast du kein Recht auf eine eigene Überzeugung“, sagt der. Nicht laut, nicht polternd: Nur ein wenig Schärfe legt er in die Stimme. Susanne Burkhard gibt die Frau des Badearztes selbstbewusst, abwägend - und allzu kompromissbereit? „Es gibt doch so viel Unrecht auf der Welt, dem man sich fügen muss“, gibt sie zu bedenken und rät ihrem Mann zum Einlenken.

In vielen Inszenierungen lässt genau diese fehlende Bereitschaft zum Einlenken den Badearzt trotz seiner moralisch einwandfreien Haltung zum Radikalinski werden, der sich mit seinem Fundamentalismus ins Unrecht setzt. In Oberhausen dagegen bleibt der Thomas der Unterlegene, der dem Opportunismus und der zu kurzfristigem Denken verleitenden Geldgier der Stadt-Elite nichts entgegenzusetzen hat. Aber nachdem sich die Stimmung in der Stadt gegen ihn gedreht hat, dämmert ihm, was schon Goethe und Schiller formulierten: Die Dummen sind immer in der Mehrheit. „Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn, Verstand ist stets bei wen'gen nur gewesen. Der Staat muss untergehen, … wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet“, heißt es in Schillers „Demetrius“. Stockmann spricht von der „Herrschaft der Dummen über die Erkenntnis“ und formuliert radikal: „Die Mehrheit hat nie das Recht auf ihrer Seite.“ - Das Oberhausener Publikum aber ist nicht dumm. Sarkiss, der verhindern will, dass sein Bruder auf der von ihm geforderten öffentlichen Versammlung zum Badewasser-Skandal sprechen kann, winkt lockend zur Pause. Das Publikum aber bleibt sitzen.

Und lauscht Clemens Dönicke. Die Mehrheit mag dumm sein, aber nicht alle Menschen sind gleich. Dönicke erzählt während unserer nicht wahrgenommenen Pause Edwin Abbot Abbots Parabel vom Flächenland, in dem die Kugel als Kreis und der Würfel als Quadrat wahrgenommen wird, weil man nur zwei Dimensionen sieht. Frauen erscheinen als gerade Linien, Arbeiter als gleichschenklige Dreiecke, Gelehrte sind Quadrate. Was bei Abbott als Satire auf die Viktorianische Gesellschaft gemeint war, wird bei Dönicke/Stockmann zu einer Wutrede auf die eindimensional denkende Gesellschaft - und zu einer Publikumsbeschimpfung, denn es erfasst uns das unbequeme Gefühl, wir selbst seien gemeint: „Habt ihr geglaubt, dass alle Menschen gleich sind?… Habt ihr dafür ein geistiges Konzept?… Wenn die Mehrheit aus Leuten besteht, die nur an sich und an ihren eigenen Profit denken, dann entscheidet nicht die Mehrheit, sondern nur noch der Profit.“ Auf dem Besetzungszettel findet sich ein Zitat der Politikwissenschaftlerin Wendy Brown: „Wenn Demokratie einen Sinn haben soll, muss sie… tiefer in das Gefüge der Macht vordringen als je zuvor, und wenn sie ehrlich sein soll, muss sie die Freiheit als ihren Lohn aufgeben. So gesehen lässt sich Demokratie nie verwirklichen, sondern ist immer nur ein (unerreichbares) Ziel, ein fortwährendes politisches Projekt.“ Man kann das als eine Aussage gegen den Liberalismus werten, aber letztlich ist es vor allem ein Werben um ein nie endendes Bemühen um Interessenausgleich zu Lasten individueller Durchsetzungsmacht. Ein ähnliches Plädoyer versteckt sich in Dönickes Rede, wenn er von der Demokratie als einer wenig perfekten, aber doch der besten Staatsform spricht, die wir haben. 

Wer geglaubt hat, Dönickes Wutrede sei der Kulminationspunkt des Abends, sieht sich getäuscht. Am Theater Oberhausen hat Florian Fiedler die Rollen von Aslaksen, Hovstad und Billing überraschenderweise weiblich besetzt. Das geht zu Beginn nicht durchgängig auf. Lise Wolle als Zeitungsverlegerin und Buchdruckerin ist in ein strenges, maskulin wirkendes Kostüm mit so stark wattierten Schultern gezwängt, dass sie nachgerade halslos wirkt. Sie stattet ihre Figur mit Ernsthaftigkeit, Ehrgeiz und skrupellosem Machtbewusstsein aus. Bei Banafshe Hourmazdi und Emilia Reichenbach als Hovstad und Billing dagegen vermag die Genderverkehrung zunächst nicht zu überzeugen: Lange Zeit über wirken beide wie naive kleine Mädchen und gegenüber den gestandenen Brüdern Stockmann kaum satisfaktionsfähig. Doch jetzt haben Hourmazdi und Reichenbach ihren großen Auftritt. Denn die beiden neuen Ensemble-Mitglieder sind ebenso herausragende Musiker wie Sarkiss und Wolle aus dem alten Ensemble. Die vier veranstalten ein grandioses Konzert, bei dem es uns kaum auf den Sitzen hält. Wir werden von Rock und Pop manipuliert nach allen Regeln der Kunst. Verseuchtes Kurbad? „What a wonderful world“! Verletzungen durch kontaminiertes Wasser? „I don’t care if it hurts … / I want a perfect body / I want a perfect soul.“ Und überhaupt: „Who wants to live forever?“ - Exquisit ist die Musikauswahl, ganz subtil die Message, und herausragend ist das zwanzigminütige Konzert mitsamt der perfekten Son et Lumière-Show im Oberhausener Parkett. Sarkiss, Wolle, Reichenbach und Hourmazdi - diese vier schicken wir auf Welttournee. Und wenn der Abend jetzt zu Ende wäre, würden wir glücklich nach Hause gehen, ohne über den Sinn des Abends nachzudenken. Sollen doch die Touristen im Kurbad verrecken.

Und das eben ist der große Coup von Florian Fiedlers Inszenierung. Wie gern vergessen wir Zeit und Raum und sämtliche Konflikte, wie gern geben wir uns der perfekten Manipulation durch die Unterhaltungsmaschinerie hin. Viele Vorlagen aus Film und Theater haben mit dem Motiv verblödender Lach-Shows à la RTL gespielt, die das gemeine Volk ablenken und von kritischem Denken fernhalten sollten - Wolf Gremm zum Beispiel tat dies in „Kamikaze 1989“ (einem Science Fiction Krimi von 1982) lange, bevor es RTL Television gab. Doch immer mussten die herrschenden dunklen Mächte die Intellektuellen ausschalten, einsperren, kasernieren, weil sie sich nicht von dummdreister Comedy vereinnahmen lassen wollten. Jetzt reißt Oberhausens Rock- und Popkonzert selbst die Intellektuellen hin - was ist schon Thomas Stockmanns gelehrte Flächenland-Fabel gegen die Gitarrenriffs von der Oberhausener Band und die Rockröhren des Oberhausener Ensembles?

Nach 20 Minuten geht Lise Wolle-Aslaksen mit verächtlichem Blick von der Bühne. Dr. Stockmann ist niedergefeiert worden. Resigniert kehrt er an die Stätte der Fête zurück. Man hat ihm die Fenster eingeschlagen und seine Wohnung gekündigt. Die „kompakte Majorität“, die er beschworen hatte, ist so kompakt wie nie zuvor: Sie bildet eine unerbittliche Mauer gegen den Badearzt und seine Familie. Frau Kill, Katrins Pflegemutter, schraubt den emotionalen und finanziellen Preis für Stockmann noch einmal höher: Zur Meinungsmanipulation kommt die Aktienmanipulation hinzu. Deprimierend fällt Stockmanns Fazit aus: „Der stärkste Mann der Welt ist der, der ganz alleine steht.“ - Langanhaltender Jubel und rhythmisches Klatschen.