Rätsel aus dem Menschenpark
Animal Farm? - Na ja. „Theater im Menschenpark“ - das trifft es schon eher. Zugegeben, George Orwell kommt auch ein oder zweimal vor. Bauer Jones sogar noch häufiger: Roger Hilgers erklärt ihn zu seinem Vorfahren und nimmt ein paarmal Bezug auf den Ausbeuter-Farmer, den Orwells Schweine vom Hof jagten. Ausgiebig bespiegelt wird das Theater: Erstens erleben wir es in allen möglichen sprachlichen, gesanglichen oder choreographischen Ausprägungen, und zweitens nimmt die Aufführung ganz konkret Bezug auf die Philosophie und die Geschichte des deutschsprachigen belgischen AGORA Theaters aus St. Vith, einer einstmals egalitären Gründung, die doch dem Zwang zur Institutionalisierung und Bürokratisierung und damit zu einer zumindest ansatzweisen Hierarchisierung nicht entgehen konnte. Vor allem aber geht es um den Menschenpark - respektive Peter Sloterdijks „Regeln für den Menschenpark“ und die daraus resultierende Debatte über die Anwendung von Biotechnologie bei der Entwicklung der menschlichen Spezies.
Orwells aus der Zeit des Kalten Krieges stammende Allegorie auf den Stalinismus interessiere heute niemanden mehr, hatte Regisseur Felix Ensslin bereits vor der Premiere seiner vollständigen Neuschöpfung geäußert. Er hat sich von der tradierten und kaum noch hinterfragten Interpretation gelöst und versucht, Orwell neu zu lesen und seinen Text auf die heutige politische und gesellschaftliche Situation zu übertragen. Ensslin fragt, wie die Idee von Freiheit heute aussehen könne, welche Revolutionsstrategien noch angemessen und erfolgversprechend seien. Dabei greift er auf den Gedanken Sloterdijks zurück, dem zufolge der relevante gesellschaftliche Konflikt heute nicht mehr die Differenz zwischen Arbeit und Kapital sei, sondern der unterschiedliche Zugang zu Methoden der Gentechnik, der Biogenetik und der Evolutionsbiologie, mit Hilfe derer es möglich sei, die Spezies Mensch zu verändern. Die genetische Forschung erlaubt es dem Menschen, einzelne Fähigkeiten zu verbessern, das Leben zu verlängern, ja: sogar Einfluss auf die eigene Intelligenz zu nehmen. „In der Welt der Superhirne ist Stagnation nicht erlaubt. Verfall schon gar nicht“, lautet ein Kernsatz, der sich ironisch, aber auch mit bitterem Blick auf unsere heutige Realität wie ein Mantra durch die Aufführung zieht. Eine Homunculus-Szene, viele Reflexionen über den Evolutionsprozess illustrieren diesen Gedanken. Muss man den Menschen neu schaffen oder nimmt man Einfluss auf die Natur, um aus Verfall Fortschritt zu machen? Reicht es, Pillen zu entwickeln oder nimmt man genetische Veränderungen vor?
Galia De Backer betrachtet Orwells im Jahre 1945 erschienenen Roman Farm der Tiere als ideale Relais-Station zwischen 1917 und 2017 - zwischen den klassischen Revolutionsmethoden wie sie noch bei der Russischen Revolution angewandt wurden und den veränderten Möglichkeiten zu revolutionärem Wandel, die sich in unserer heutigen Welt ergeben. De Backer spielt in der Aufführung die Henne Chica, die sich dem radikalen und revolutionären Gedankengut der heutigen Zeit verbunden fühlt. Chica schreibt ihre Erinnerungen an die revolutionären Gruppen der letzten Jahrzehnte auf. Das ist Teil der „Maßnahme“, zu der sich die - erneut revolutionär gesinnten - Nachfahren der Orwellschen Tiere getroffen haben. Daniela Scheuren ist die Katze Cat, die diese Maßnahme leiten will - als wissenschaftliches Experiment. Sie ist es, die den Menschen mit Hilfe gentechnischer oder biogenetischer Methoden überwinden will; andere tendieren eher zu einer Weiterentwicklung des Menschen mit traditionelleren Methoden. Eno Krojanker als Squealer protestiert einmal: „Wir sind keine Algorithmen.“ Er fordert sein revolutionär gesinntes Publikum zu gewissenhafter Vorbereitung und vor allem zu Disziplin auf: Minutenlang verausgabt er sich an der Rampe mit Bodybuilding-Übungen.
Was er an sportlichen Leistungen vollbringt, würde den gemeinen Zuschauer im FFT vermutlich überfordern. Tatsächlich bekennt sich Regisseur Felix Ensslin zu einer „Ästhetik der Überforderung“. Natürlich meint er das nicht in physischer, sondern in intellektueller Hinsicht. Zumindest das gelingt ihm glänzend: Die Überforderung ist heillos. Selten haben wir uns den intellektuellen Hintergrund der - auch als Rätsel durchaus beeindruckenden - Inszenierung in solchem Umfang als nachträgliche Lesearbeit aneignen müssen. Dass nur wenige Zuschauer die Aufführung vorzeitig verließen, lag wohl an zweierlei: an dem Trommelfeuer aus Assoziationen und Zitaten aus Politik, Philosophie und Literatur, das die Truppe auf uns niedergehen lässt, sowie an dem phantasievollen und abwechslungsreichen Einsatz unterschiedlicher Theatermittel. Mal spielt die Aufführung in einem dystopischen Absurdistan, dann wieder sehen wir Filmschnipsel aus unserer politischen Vergangenheit (Kohl, Gorbatschow, Thatcher, Adenauer, Honecker, de Gaulle, Churchill, Trump, Blair, Bush - you name them, the artists are present). Karl Marx wird ebenso reflektiert beziehungsweise hinterfragt wie die 68er-Zeit oder die Sexismus-Debatte; Einsteins Formel über Masse und Energie (aus der sich letztlich die Formel für die Atombombe herleiten ließ) wird auf ihre Eignung für gesellschaftspolitische Umwälzungen überprüft; der amerikanische Konzeptkünstler Lawrence Weiner wird zitiert („We are ships at sea, not ducks on a pond“), Trotzkis Ermordung in Mexiko und die Bibel einschließlich deren fehlerhafter Übersetzung auch. Mit Adornos „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ können wir über die Notwendigkeit einer Revolution nachdenken. Das berühmte Lied aus dem Märchenfilm „Der Zauberer von Oz“, das später von Aktivisten zur Feier von Margaret Thatchers Tod zweckentfremdet wurde, klingt an: „Ding Dong, die Hexe ist tot.“ Nur dass es bei den Agora-Leuten lautet: „… und jeder weiß, die Hexe war rot.“ - Stimmt, zu „roten Hexen“ würde uns auch die eine oder andere Protagonistin aus der Politik einfallen …
Die großartigen Schauspieler präsentieren diese assoziative Collage, die ohne jeglichen Handlungsrahmen auskommt, nicht nur mit Hilfe der Sprache. Akrobatik, Leistungssport und Choreographie finden ebenso Eingang in die Performance wie chorische Passagen und Musik unterschiedlicher Richtungen. Gegen Ende sehen wir ein Video, in dem sich Eminem in Endlosschleife von einem Wolkenkratzer in Hochhausschluchten stürzt. Es ist eine Szene aus dem Musikvideo zu Eminems Song „The Way I Am“, einem relativ aggressiv vorgetragenen Rap voller Revoluzzer-Frust. Die Performer interpretieren es wieder mit einem Schuss Ironie und sprechen von der „Freiheit zwischen Abgrenzung und Aufprall“. Eminem grenzt sich ab, fällt wieder und wieder, doch er prallt nicht auf. Politische Utopien umzusetzen, kann man ja auch immer wieder mal versuchen. Über das Ausmaß an dazu erforderlicher Radikalität lässt sich streiten. Wenn die Radikalität sich in Grenzen hält, ist der Aufprall nicht so schmerzhaft. Und wenn die revolutionären Konzepte dann auch noch verständlich wären, gewönnen sie vielleicht den einen oder anderen dedicated follower of fashion…