Übrigens …

Das Internat im Dortmund, Schauspielhaus

Ein installativer Alptraum als Metapher für unsere Welt

„Ich glaube, die größte Barmherzigkeit dieser Welt ist die Unfähigkeit des menschlichen Verstandes, alles in der Welt zueinander in Beziehung zu setzen.“ Der erste Satz an diesem Abend, gesprochen von der „Stimme des toten Kindes“, könnte programmatisch sein für diese Inszenierung. Ihre düsteren Bilder scheinen eindeutig, doch sie miteinander in Beziehung zu setzen, ist ein anregendes, scheinbar aussichtsloses Spiel. Kaum glaubt man den Schlüssel gefunden zu haben, wirft das nächste Bild die vermeintlichen Erkenntnisse wieder um. Der Prolog des toten Kindes, der der Aufführung vorangestellt ist, endet zudem mit einem ganz anderen Statement: „Der Tod ist die Maske der Revolution. Die Revolution ist die Maske des Todes.“ Und diese beiden Schlusssätze des Prologs fassen in gewisser Weise die Geschichte zusammen, die diese Aufführung auch erzählt - und die ungeheuer schwer zwischen den übermächtigen Bildern zu finden ist.

Im Grunde handelt es sich bei Ersan Mondtags jüngstem Gesamtkunstwerk um eine Installation. Als solche ist sie zutiefst beeindruckend - und ungeheuer bedrückend. Das Internat hat Mondtag seinen installativen Alptraum genannt. „Internat“ kommt von internieren: Tatsächlich wirkt, was Mondtag als Internat auf die Bühne gebaut hat, eher wie ein Internierungslager. Gelegen in einer düster-romantischen Burg mit gotischen Spitzbögen-Fenstern, die in für die Insassen unerreichbarer Höhe liegen, ähneln die Räume den Verliesen eines Foltergefängnisses. Durch das offene Dach blickt man in den dunklen Nachthimmel; die Zinnen der Burg sind von Feuerschein erleuchtet. Siebzehn Männer (dass einige davon Frauen sind, sieht man nicht) bewohnen dieses Horror-Schloss. Gekleidet sind sie in eine Uniform von faschistoider Ästhetik. Nur einer nicht, und der ist nackt - nackt in dem Sinne, in dem schon die Menschen in Mondtags künstlichem Höllen-Paradies Die Vernichtung (Rezension siehe hier) nackt waren: Philipp Joy Reinhardt ist eingemummelt in ein hautenges Nackt-Kostüm mit detailgenau ausgeformtem Geschlechtsteil. Er ist der Außenseiter. Der macht nicht mit. Ist er deshalb auch unschuldig an all dem Grauen, das sich in diesen Verliesen abspielt? Lässt er sich am Ende instrumentalisieren? Was hat er selbst zu der Atmosphäre des Schreckens in diesem Internat beigetragen? Es gibt viel Gesprächssoff für Interpretationsversuche nach dem Ende der Aufführung.

Die Uniformierten singen wieder und wieder das kitschige „Herbstlied“ von Johann Gaudenz von Salis-Seewis, das noch heute in mancher Kinderlieder-Sammlung überdauert. Die harmonische Beschwörung der bunten Wälder und gelben Stoppelfelder, der reifen Pfirsiche und jubelnden Mädchen ist in der Nachtmahr dieses Internatslebens denkbar fehl am Platze. Hier ist alles eng, schwarz und voller Düsternis, und die harmonischen Gesänge wirken so surreal und gruselig wie der Unterricht, in dem die „Kinder“ zu den Dirigaten eines strengen Zuchtmeisters Lerninhalte und Sinnsprüche chorisch wiederholen. In den Schlafräumen zwängen sich die Jungen in mehrstöckige hölzerne Betten, so kurz und unbequem, dass sie jeden Orthopäden in Alarmstimmung versetzen würden. Die Gemeinschaftsduschen bestehen aus fratzenhaften Figuren mit blutroten Augen und ähneln ihrer Form nach ägyptischen Sarkophagen. Streng choreographierte Essbewegungen im Refektorium lassen die Schüler mit ihrer starren Mimik wie mechanische Puppen aussehen.

Sind das überhaupt Schüler? Oder sind es Wachleute? Oder Gefangene? Es gibt ein Bild, in dem die Uniformierten schlafend am Boden liegen und aussehen wie gefallene Soldaten. Es wird gefoltert - wir sehen die Opfer am Boden, wir hören die Schreie aus den gerade nicht einsehbaren Nachbarräumen der Drehbühne. Der begnadete Bühnenmusiker T. D. Finck von Finckenstein hat einen grandiosen Soundtrack zu diesen Bildern geschrieben. Von fern klingen ab und zu die Schreie von Krähen und Käuzchen durch die Musik. Manchmal generieren diese Schreie ein Echo, und die Internatsinsassen vollführen dazu eine unheimlich wirkende Choreographie - im Verein mit der tollen Bühneninstallation ist es dann, als feierten Edgar Allan Poe und Caspar David Friedrich gemeinsam eine schwarze Messe. Doch unbemerkt hat längst eine Geschichte begonnen. Es ist die Geschichte einer Revolution. Einer Revolution, die an die Arabellion erinnert: Was danach kommt, ist nicht immer besser.

Das Internat ist bei Ersan Mondtag eine Metapher für unsere Welt und für unsere Gesellschaftsordnung. Wenn die Welt und der Zustand unserer Demokratie so wären wie Mondtag es in seiner Inszenierung nahelegt, müssten wir uns allerdings fragen, ob wir alle unter dem Einfluss von Halluzinogenen aus dem ebenfalls in Dortmund gezeigten „futurologischen Kongress“ stehen, denn die wenigsten von uns haben bislang begriffen, dass sie eigentlich in Nordkorea leben. In Mondtags Alptraum, der - so steht zu befürchten - durchaus den Blick des Regisseurs auf die Welt verkörpert, ist es um unsere Freiheit schlecht bestellt. Und um das Thema Gerechtigkeit auch. Die Ungerechtigkeit ist das Thema, das das tote Kind von nun an immer wieder anschlagen wird. Seine Stimme klingt raunend aus dem Off, manchmal im suggestiven Flüsterton. Das Kind spricht zu dem „Jungen im Schnee“ - jenem Philipp Joy Reinhardt, der den Außenseiter in der Internatsgemeinschaft gibt. „Warum hast du den Schmerz dem Mut, die Angst der Würde vorgezogen?“, raunt es dem Jungen bereits in der ersten Kontaktaufnahme zu. Es nistet sich ein im Kopf des Jungen mit teils suggestiven, teils geradezu brutalen Fragen: „Bist du Pfeil oder bist du Bogen? … Hast du schon ihre Gräber ausgehoben? Würdest du ihm ein Ohr abschneiden?“ Ohrenbetäubend ist der Lärm, wenn die schwer bewaffneten Soldaten schießen - nur im Kopf des Jungen?

Die Drehbühne rotiert gegen den Uhrzeigersinn. In kurzen Abständen gibt sie neue Räume frei - hinter der Bühne leisten offenbar viele fleißige Helferlein Akkordarbeit. Die Zeit läuft rückwärts, die Figuren tun dies bisweilen auch. Doch dann lautet der letzte Satz der strengen chorischen Lerneinheit: „Die Zeit erkennt man daran, dass das Pendel jetzt zurückschlägt.“ Unmittelbar danach wird auch dem unvorbereiteten Zuschauer deutlich, dass das Kind zur Revolution aufruft. Der installative Charakter der Aufführung wird beibehalten, doch die Geschichte tritt langsam in den Vordergrund. Und damit niemand mehr an Geistergeschichten von Edgar Allan Poe glaubt, spielt Tobias Hoeft ein paar Videos von Begebenheiten ein, an die wir uns alle erinnern: wie im U-Bahnhof Neukölln eine junge Frau grundlos die Treppe heruntergestoßen wird, wie sich einem anderen U-Bahnhof Menschen ohne Anlass prügeln. Dazu erklingt wieder das Herbstlied - „flinke Träger springen, und die Mädchen singen, alles jubelt froh!“. Das tote Kind spricht einen Text, der eine neue Art von Nihilismus vorstellt: ein Nein zu allem, was uns wichtig ist, von schwarzem Tee über Solidarität bis zur Kunst. Ein Ja zur Revolution, so soll wohl die Botschaft lauten, kann uns aus diesem Nihilismus erlösen.

Doch die kleinen Brocken an Hoffnung, die die düstere Aufführung dem Zuschauer hinwirft, nähren nicht unsere Sehnsucht nach einer heileren Welt. Da werfen die Uniformierten ihre Käppis fort; sie ziehen ihre Uniformen aus und stellen sich gemeinsam mit dem (nun wirklich nackten) „Jungen im Schnee“ an die Rampe. Ein Ja zur Solidarität? Ganz oben auf der Burg entkleidet sich ein weiterer Uniformierter bis zur völligen Nacktheit. Es ist eine Frau: schön, groß, grad‘ und blond, wie der Sänger des makabren Todes Ludwig Hirsch sagen würde, ebenmäßig und rein. Wird aus dem Patriarchat ein Matriarchat, wird die Welt weicher, harmonischer und gerechter? Der Boden im Internat wird geschrubbt, die kahlen schwarzen Baumstümpfe um das Internatsgebäude bekommen für einen Moment eine hellere Tönung. Doch die Frau ist nicht nur groß, grad‘ und blond, sondern sie ist auch stolz und unnahbar. Ist sie das tote Kind, das „kalte Kind“, wie es sich selbst bezeichnet hatte, das sich längst auf das Massaker gefreut hatte? Die Frau ruft zum Mord auf: „Bereitet ihnen das Säurebad … Bohrt ihnen das Messer in den Bauch und dreht!“ Es gibt Hinrichtungen. Die Welt bleibt faschistisch. „Hier kommt die Sense / hier kommt der Pflug“, feiert die Frau ihren Sieg: „Wir sind der Weizen und nicht die Spreu.“

Die zuvor Unterdrückten sind nun das auserwählte Volk. Der gestürzte Machthaber kniet an der Rampe. Gewehre sind auf ihn gerichtet. Schüsse. Blackout. Unser Nordkorea bleibt bestehen.