Träumende Kollektive. Tastende Schafe im Schauspielhaus Düsseldorf

Tastende Schafe auf Socken

Hundertacht Theaterbesucher stehen Schlange vor der Tür zur Großen Bühne, immer zehn werden vorgelassen in eine improvisierte Garderobe und aufgefordert, die Schuhe auszuziehen. Verwirrt oder amüsiert gehorchen alle und betreten auf Socken den nächsten Raum. Zwei Platzanweiser trennen die Paare und verteilen die Zuschauer auf die vierundfünfzig aufgestellten Terminals, je zwei Personen zufällig und willkürlich einander gegenüber. Jeder findet ein nummeriertes Smartphone vor, das er später für alle sichtbar am Arm tragen wird und das - mit einer eigens für diesen Zweck entwickelten App - zu einer Wolke geschaltet ist, in der wir uns von nun an in einem permanenten Abstimmungsprozess befinden werden. Die Cloud, in der sekundenschnell alles gesammelt und analysiert wird, hat eine liebevolle weibliche Stimme und einen Namen: IRIS. (Viel später wird zurückgeblendet auf die griechische Mythologie und die Göttin Iris etwas fragwürdig bemüht.)

Das Mitmachtheaterspiel beginnt: die beiden Herren, jetzt Moderatoren oder Agitatoren (Kostis Kallivretrakis und Vassilis Koukalani), katapultieren uns mit charmant griechischem Akzent ins Jahr 2048, stellen Fragen, die farbig gedruckt auf unserem Smartphone erscheinen und blitzschnell zu beantworten sind: spontan aus dem Bauchgefühl. Je nach Antwort leuchtet unser Gerät - für jedermann sichtbar! - grün, blau, rot oder gelb auf. Gleichzeitig erscheint an der Wand schon die prozentuale Auswertung des Ergebnisses, nicht nur in riesige Grafiken, sondern auch gleich in Klänge übersetzt.

Scheinbar harmlos kommen die Fragen daher: Wie wollen wir leben in dreißig Jahren? Was wollen wir frühstücken? Englisch oder vegan? Welche Autos fahren, welche Düngemittel nutzen? Doch dann wird es politisch: Wer ging schon einmal bewusst nicht zur Wahl? Und sollten nicht irgendwann Algorithmen für uns wählen?

IRIS hat schnell gerechnet und stellt fest, wer konform entschied: neun Personen sind betroffen, werden auf ein Podest gestellt und als „beste Schafe in der Herde“ mit einer Schafs-Maske diffamiert. Und dann zeigt sich IRIS als allmächtiges Regierungssystem, das fortan alle Antworten mit LOOSER in rot oder WINNER in grün-strahlend quittiert. Fraglich, wo die Enthaltungen bleiben.

Anschließend wird’s schulmeisterlich - und dümmlich: weil ja Athen der Ursprungsort von Demokratie und Theater sei, verlassen unsere beiden Spielführer ganz einfach das Jahr 2048, springen zurück in die Jetztzeit und bieten uns vom Podest aus eine Philippika zur griechischen Schuldenkrise, poltern gegen die bitterböse EU, das ungerechte Referendum 2015 und fragen das Publikum, wie sie beide - offenbar griechische Staatsbürger - wohl damals votierten.

Jetzt wäre wohl die Schafsmaske für alle fällig gewesen! Schließlich heißt es ja schon im Titel Tastende Schafe. Doch stattdessen werden wir in sechs verschiedene Vogelschwärme eingeteilt. Damit wir wissen, wozu wir gehören, erhält jeder einen entsprechenden bunten Vogelschnabel am Gummiband: mal länger, mal kürzer, mal rot, mal gelb. Meiner ist blau-gelb. Ich gehöre zu den Parrots, das sind wohl die Papageien. Das verwundert mich, denn bei all den Enthaltungen, die ich mir leistete, fühl ich mich so gar nicht als Nachplapperer. Doch vielleicht sind es ja ganz andere Eigenschaften dieser Exoten - die sich inzwischen auch auf der Kö breit machen - die mich mit ihnen verbinden. IRIS muss es ja wissen. Damit wir zumindest wissen, wieso wir gerade Vogelgruppen und nicht Schafsherden oder Ameisenstaaten bilden, folgt ein kleiner Exkurs in die griechische Mythologie, der die Götterbotin Iris als Vogelgöttin vorstellt. (Wenn sich da mal nicht eine Verwechslung mit der ägyptischen ISIS eingeschlichen hat!)

Und am Ende dann die Gretchenfrage - jetzt wieder in der Zukunft und von jeder Vogel-Gruppe gemeinsam zu beantworten: Hätte der Mensch die Digitalisierung beherrschen können oder gar müssen? JA oder NEIN. Ich glaube, es siegte JA.

Das war’s dann. IRIS hat ausgedient und es bleibt die Frage: Was lernt uns das? (Zitat)

Wir sollten erfahren, wie „Data-Mining, Big Data oder Machine-Learning die demokratischen Prozesse beeinflussen“. In der Tat war der technische Aspekt interessant und offenbar gelang es ja auch über neunzig Minuten, den Spieltrieb des Publikums zu nutzen und auszunutzen, zu manipulieren und auszuwerten.

Doch hatte diese permanente Abstimmungsprozedur etwas höchst Künstliches, die Fragen- und Themenkomplexe etwas Plan- und Wahrloses, die Interaktionen etwas Gewolltes. So pointenfrei müsste das Mitmach-Spiel nicht ablaufen, um die Erfahrung unsensiblen Datenumgangs zu vermitteln und die Gefahr einer entmenschlichten Zukunft zu imaginieren.

Die Künstlergruppe Rimini Protokoll  zeigt mit Träumende Kollektive. Tastende Schafe (Staat 3) den dritten Teil ihrer Tetralogie STAAT 1-4, von der bisher nur der in Düsseldorf uraufgeführte erste Teil Gesellschaftsmodell Großbaustelle (Staat 2) zu überzeugen vermochte.