Lachen mit den Larven
Der Roman, der diesem Theaterabend zugrunde liegt, hat 1548 Seiten. Sein Übersetzer Ulrich Blumenbach hat sechs Jahre lang an der Übertragung ins Deutsche gearbeitet. Fußnoten und Anmerkungen erstrecken sich auf ca. 130 Seiten. Er wimmelt nur so von Fremdwörtern, die kein Mensch kennt - und von denen man auch nicht so recht weiß, ob es sie wirklich gibt. Unendlicher Spaß?
Thorsten Lensing bringt den Roman am 22. Februar in gut vier Stunden auf die Bühne der Berliner Sophiensæle. In Münster war das Werk jetzt in einer Vorpremiere zu besichtigen. Wie im Roman gibt es keine geradlinige Handlung, sondern eine Reihe von verschiedenen Erzählsträngen. Von chronologischer Erzählweise ist keine Spur; wie alles mit allem zusammenhängt (oder auch nicht), begreift man erst nach Stunden. Und doch, ja: Es ist ein unendlicher Spaß. Es ist sogar ein Höhepunkt der Schauspiel-Saison.
In weiten Teilen greift der Roman auf autobiographische Erfahrungen zurück. David Foster Wallace war hochbegabt. Er hatte einen doppelten Universitätsabschluss in Modaler Logik und in Literaturwissenschaften. Wallace selbst sprach von einer „bizarren Neigung zu intuitiver Mathematik“. Er war einer der vielversprechendsten Nachwuchs-Tennisspieler im Mittleren Westen – weniger wegen seiner herausragenden Schläge, sondern weil er nicht nur den Aufschlagwinkel seines Service, sondern auch den Winkel des Returns und den Einfluss der Windverhältnisse berechnen konnte. Mit 46 Jahren erhängte er sich in der Garage. Es ist ein unendlicher Spaß.
Einer der Clous von Thorsten Lensings Inszenierung dürfte sein, dass es individuell höchst unterschiedlich ist, ab wann dem Zuschauer das Lachen im Halse stecken bleibt. Zunächst einmal steht das Alter Ego des Schriftstellers - natürlich stark verfremdet - vor uns: vor einer kargen Wand, die den einzigen Bühnenschmuck im Theater im Pumpenhaus darstellt. Hal Incandenza wird von Ursina Lardi gespielt, lang und dünn, in Tenniskleidung sowie mit unendlich hohen Plateausohlen. Prinz Hal: Das ist bei Shakespeare der Beiname des späteren Königs Heinrich V., der dem Zeitvertreib der leichteren Art nicht abgeneigt war und der Überlieferung nach noch als König „a tun of tennis balls“ geschenkt bekommt, von denen er in der Schlacht von Agincourt gemäß eines Verses des Mönchs John Lydgate metaphorisch spricht: „Some hard tennis balls I have hither brought / Of marble and iron made full round … They shall beat the walls to the ground.” Im Roman stellt der hochbegabte Tennis-Nachwuchs mit Tennisbällen einen Atomkrieg nach. Ein Mann wie Wallace dürfte den Namen seines Helden also nicht zufällig gewählt haben (zumal der Titel „Infinite Jest“ auf den Totengräber Yorick in Shakespeares „Hamlet“ Bezug nimmt), aber die Härte von Marmor und Eisen hat Hal nicht. Wie das so ist mit Hochbegabten: Auf den Feldern, auf denen sie nicht hochbegabt sind, haben sie oft Defizite. Lardi hat ein permanentes Zucken im Gesicht, laute und unangenehme Schnalz-Geräusche begleiten ihre Sprache. Wir lachen uns scheckig ob der hochkomödiantischen Darstellung, die Hal zu Beginn geradezu autistisch wirken lässt.: Er steht vor einer Prüfungskommission zur Zulassung an der Universität, doch Hal antwortet nicht auf Fragen, aber rattert auswendig gelernt klingende, druckreife Sätze herunter, wenn es um sein Fachgebiet geht. Und „Ich bin nicht nur ein Junge, der Tennis spielt. Ich habe eine verzweigte Geschichte. Erfahrungen und Gefühle. Ich bin komplex. Ich lese.“
Auftritt Lardi mit Sebastian Blomberg. Der stellt sich vor als „professioneller Konversationalist“. Hal soll das Sprechen, besser: informelle Konversation beherrschen lernen. Himmelschreiend komisch ist auch diese Szene; der Konversationalist ist völlig überfordert mit dem altklugen, schlagfertigen Alleswisser Hal und wird immer weinerlicher unter seiner schlecht sitzenden Perücke. Virtuos ist die Performance von Lardi und Blomberg, und das Publikum schüttelt’s durch. Lardi aber zieht ihrem Gegenüber die Perücke vom Kopf und enttarnt den Konversationalisten als ihren Vater. Der hat sich nichts sehnlicher gewünscht als endlich einmal ein einziges Gespräch mit seinem Sohn, ist geradezu traumatisiert von der Sprachlosigkeit zwischen Vater und Sohn. Wir lachen – und erkennen erste Zusammenhänge in einer hochintelligenten, aber kaputten und vollkommen neurotischen Familie.
Und so geht das weiter. Vor der Pause hat die köstliche Komödiantik Hochkonjunktur; wenn Sebastian Blomberg als Vogel in den Swimmingpool stürzt, erreicht der Slapstick sogar Herbert-Fritsch-Qualitäten. Doch das Lachen ist politisch inkorrekt. Randy Lenz, ein Mitbewohner Hals an der Enfield Tennis Academy, killt eine Katze, indem er ihr einen Müllbeutel über den Kopf stülpt, und minutenlang rollt Jasna Fritz Bauer als Müllpaket über die Bühne. Witzig, oder? Der 64jährige André Jung gibt Hals schwerstbehinderten jüngeren Bruder Mario. Grandios gelingt Jung die makabre, so furchtbare wie hochpoetische Schilderung seiner Frühgeburt und der grauenvollen körperlichen Versehrtheiten des Heranwachsenden. Das ist Grusel-Comedy vom Feisten - Orin Incandenza, der ältere Bruder von Hal, ist Football-Profi und vom Gedanken an Sex und der Angst vor fliegenden Schaben besessen. Devid Striesow macht ein hinreißendes Kabinettstückchen aus den schauerlichen Phantasiegeschichten seiner Figur. Passend zur Schaben-Phobie meldet eine Radiosprecherin anschließend den Vormarsch einer volkswagengroßen Hamster-Mutation…
Die Fallhöhe zwischen Tragik und grenzenloser Komik ist atemberaubend. Wir wischen uns die Lachtränen aus dem Gesicht und fragen uns: Worüber lachen wir eigentlich? Unendlicher Spaß“ - das ist, wie die FAZ einmal geschrieben hat, „das Codewort für eine düstere Zukunftsvision.“ Im Roman ist es der Titel eines Films, den der Vater von Hal gedreht hat und der so lustig ist, dass jeder, der ihn je gesehen hat, „leer wie die Tiefenebene eines vom Rückenmark gekappten Reptiliengehirns“ in eine geschlossene Anstalt eingewiesen werden muss. Thorsten Lensing und sein geniales Schauspieler-Team manipulieren uns auf exakt dieselbe Weise. Sie zeigen uns zweieinhalb Stunden lang, wie blendende Unterhaltung den Blick für die tragischen Schicksale der Protagonisten und die diese verursachenden gesellschaftlichen Phänomene verstellt.
Unendlich langsam führt uns Lensing auf den Pfad der Tugend zurück, indem er immer apokalyptischere Bilder in die Aufführung einstreut. Jasna Fritzi Bauer stellt sich als eine LARVE vor: ein Mitglied der Liga der Absolut Rüde Verunstalteten und Entstellten. Der Radiomoderatorin trägt einen Schleier vor dem Gesicht: Ihre Mutter hat es mit Säure verätzt. Gleichzeitig aber geht das Gerücht, ihre Schönheit sei so unerträglich groß, dass sie ein Tuch vor dem Gesicht trage müsse, um sie zu verbergen. - Wir hören die Geschichte der koksenden Prostituierten Grace - was Jasna Fritzi Bauer hier abliefert, ist nicht mehr lustig, sondern tragisch. Die Aufführung nähert sich der Todesursache ihres Autors: Alkoholsucht und Depression. Ursina Lardi erzählt voller Witz von der fehlgeschlagenen Trauertherapie, zu der der abgebrühte Hal gezwungen wurde, nachdem sein Vater sich in der Mikrowelle umgebracht hat. Im Stuhlkreis berichten die Anonymen Alkoholiker von ihren hanebüchenen Psychosen - witzig, aber tragisch. Die Beruhigungs-Phrasen der Therapeutin sind nichtssagend, entindividualisiert und empathielos. Mit Humor, aber dennoch nicht ohne Schärfe greift Wallace das esoterische Gewese der Gruppentherapien an und entlarvt die Coaches mit ihren leeren Instrumentenkoffern. Gemessen an der Schwere der Erkrankung des Autors fällt die Kritik trotz Heiko Pitkowskis grandioser Wutrede überraschend milde aus.
Nach der Pause breitet sich nur noch einmal ausgelassenes Gelächter im Publikum aus. Devid Striesow, an diesem Abend der Superstar unter all den herausragenden Komödianten, macht sich als naives, aber von ihrem Vater traumatisiertes U16-Tennis-Girl an einen überforderten Mario heran. Es ist, als träfen sich zwei kleine Kinder und redeten wie hochgebildete Erwachsene. Beispielhaft steht die Szene noch einmal für den Wortwitz und die unvergleichliche Situationskomik von Text und Aufführung. Das herausragende Ensemble – Thorsten Lensing hat wieder einmal die crème de la crème der deutschsprachigen Schauspieler für eine seiner raren Theaterarbeiten versammelt - versteht es unnachahmlich, Pointen aus dem schwierigen Roman-Text herauszukitzeln. Aber die Gründe für Hals Depression werden immer deutlicher: Versagensängste sind es, vor allem aber die Angst vor einem übermächtigen Vater, die über dessen Mikrowellen-Tod hinaus andauern. Wir erfahren nun, warum Hal in den ersten Szenen so autistisch wirkte: Es waren die Auswirkungen des Drogen- und Alkoholentzugs. Heiko Pinkowski als Don Gately verkümmert in einem Altersheim – oder ist es gar ein Hospiz? Er hat die Sprache verloren, kann seine Ängsten nicht mehr mitteilen und stößt auf die Verständnislosigkeit seiner Umwelt. Er, der darunter leidet, dass er nicht an Gott glauben kann, fragt sich nun, ob Gott ihm seine Krankheit und seine Ängste als Strafe auferlegt hat.
Zum Schluss taucht ein Geist auf. Sebastian Blomberg gibt ihn mit traurigem Witz, auf allen Vieren, hufeklappernd wie ein Pferd. Irgendwann realisieren wir: Unter seinem Geisterfummel trägt er wieder den Pullover, anhand dessen Hal den Konversationalisten als seinen Vater identifiziert hatte. Die Depression kriecht diesen Menschen nach bis in den Tod.