Neugier auf die nächsten Alpträume
Der große Hof, in den wir von unserem Platz im Parkett blicken, war wohl einmal ein Innenraum. Stephan Weber hat eine Ruine auf die Bühne des Theaters Oberhausen gesetzt. Schnee bedeckt den Boden und die Reste der zerborstenen Mauern. Vielleicht war dies einmal das Hilton Hotel von Costricana, das während des 8. Futurologischen Kongresses von Aufständischen angegriffen und zerstört wurde. Geräusche von zusammenstürzenden Mauern dringen durch die bedrohliche Musik von Yotam Schlezinger und scheinen diese Vermutung zu stützen. Doch könnte das Bühnenbild auch eine Metapher für die verrottete Welt sein, in der der Raumfahrer Ijon Tichy später aufwachen wird, nachdem er in einen jahrzehntelangen Kälteschlaf versetzt wurde. Das Verrottete wird Tichy im Jahre 2039 nicht wahrnehmen, denn die Menschen werden samt und sonders unter dem Einfluss von Halluzinogenen stehen. Da Stanislaw Lem - ebenso wie die Inszenierung - auf verschiedenen Ebenen mit dem Einsatz bewusstseinsverändernder Drogen spielt, weiß man nicht so recht, was von Tichys dystopischen Erlebnissen zu halten ist. Es mag ein Alptraum sein. Aber die Welt steht nach dem Absturz aus der industrialisierten Wohlstandsgesellschaft vor dem Untergang.
Auf dem Kongress werden die Themen angesprochen, die in Lems Roman ursächlich für diesen Untergang sind. Da ist vor allem die „Überbevölkerungsspringflut“: Astronaut Tichy - zu Beginn halbwegs klar identifizierbar von Christian Bayer gespielt, später von allen fünf Schauspielern der Inszenierung verkörpert - bezeichnet die Raumfahrt einmal als „eine Form der Erdflucht“. Der Vertreter Japans stellt ein 800stöckiges Hochhaus der Zukunft vor, das ein in sich geschlossenes System darstellt (in Dubai und in Saudi-Arabien sind wir heute nicht mehr weit von solchen architektonischen Schöpfungen entfernt!); Ehepaare müssen eine Prüfung mit den Kapiteln „Begattung, Erziehung und Vermeidung“ ablegen: Den Hinweis auf das heute noch aktuelle Problem der Überbevölkerung, den wir in der Inszenierung des Romans am Schauspiel Dortmund vor wenigen Monaten vermisst hatten (siehe Rezension hier), kann der aufmerksame Zuschauer in der Oberhausener Inszenierung aufnehmen. Schnell wird die von Beginn an spürbare Bedrohung Realität - sofern man in Lems Roman und Tomas Schweigens Inszenierung überhaupt von so etwas wie Realität sprechen kann. Mit Gasmasken und Pelzmänteln schützen sich die fünf Schauspieler im Bürgerkrieg von Costricana gegen Kälte und chemische Kampfstoffe. Die Polizei setzt Halluzinogene ein, Begütigungsmittel wie Erosol und sogenannte BMB: „Bomben Menschlicher Brüderlichkeit“. So macht sie uns die Welt wie sie uns gefällt: Lachend quittiert eine junge Frau ihre Kriegsverletzungen; Tichy und sein Freund, der Schweizer Professor Trottelreiner, treiben Wurzeln und ergrünen.
Man flieht in die Kanalisation, findet sich zwischen Ratten wieder. Doch in Oberhausen ist es ein wunderschöner eisgrauer Hund, der durch die verschneite und vernebelte Ruinenlandschaft streunt: Bühnenbildner Stephan Weber hat großartig spookige Bilder gefunden. Und Tomas Schweigen setzt frühzeitig kleine versteckte Signale, die auf die Haupt-Themen seiner Inszenierung hinweisen: „Was, wenn die Sauerstoffmasken auch nur Halluzinationen sind“, fragt einer. Der Realitätsebenen - respektive der Ebenen der Irrealität - sind viele, und niemals weiß man so recht, was Halluzination und was erlebte Wirklichkeit ist. Das zu hinterfragen, ist nicht jedem gegeben: Tichy wird es tun, Trottelreiner wird ihm helfen, seine Revitalisierungsassistentin Aileen versucht es im Roman zu verhindern, während sie in Schweigens Inszenierung nur untertaucht - aus Angst vor der Wahrheit? Ich ist ein anderer: Aus dem Kälteschlaf wacht Tichy im Körper einer Frau auf; Trottelreiner scheint nur noch eine Ansammlung künstlich am Leben erhaltener Organe zu sein, eine Art Cyborg. Merkwürdig funktionstüchtig ist die schöne neue Welt: Aus Gras wird ohne Umweg über die Kuh Milch und Käse, es gibt keine natürliche Vogel-Population mehr, und dennoch lebt die Welt in Wohlstand und Glück. Tichy aber, der alte Forscher und Raumfahrer, hat seine akademische Sensibilität noch nicht verloren: Er nimmt wahr, dass die glücklichen Menschen höchst angestrengt schnaufen und keuchen. Und er entdeckt das Geheimnis der Pharmakokratie: Benignatoren und Trauminzen gaukeln den Menschen ein ideales Leben vor; tatsächlich aber leben sie in einem im Bürgerkrieg und an Überbevölkerung untergegangenen Staat - ohne technische Hilfsmittel, mit einer Durchschnittstemperatur von 14°. „In einigen Jahren wird hier ein Gletscher sein“: Schnee, Eis und Nebel halt, wie von Bühnenbildner Weber von Beginn an geweissagt. Zurückgebeamt auf den Kongress in Costricana, sehen wir erstmals die Menschen in ihrer Alltagskleidung. „Halluzination!“ rufen alle entsetzt. Sie erkennen ihre Gegenwart, aber sie vermögen nicht mehr daran zu glauben.
Das Theater Oberhausen hat seine Spielfassung von Stanislaw Lems grotesker Science-Fiction-Dystopie nur ein gutes halbes Jahr nach der Premiere am Schauspiel Dortmund erarbeitet. Beide Theater bieten ihren Zuschauern einen 50%igen Rabatt bei Vorlage der Eintrittskarte für die jeweils andere Inszenierung. Tatsächlich sind beide Theaterfassungen in ihrer Ästhetik so unterschiedlich, dass sich ein Inszenierungsvergleich lohnt. Allerdings hatte sputnics Dortmunder Comic-Version dem Rezensenten nicht eingeleuchtet: obwohl sie deutlich plakativer als die Oberhausener Fassung politisiert und Themen des 21. Jahrhunderts anspricht. Lems ironischen, sprachschöpferischen und phantasievollen Roman, der bei seiner Entstehung Anfang der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts auch ein Schlüsselroman über die Funktionsweise totalitärer Machtpolitik war, ohne Verluste auf die Bühne zu bringen, ist schwierig. Es gelingt auch der Oberhausener Inszenierung von Tomas Schweigen nur bedingt. Das Kapitel über die neue Sprache in der „Zukunde“, die einen der größten Reize von Lems Roman darstellt und dem Regisseur angeblich wichtig war, funktioniert nicht recht. Doch why worry: Mit dem Verzicht auf übertriebene Komik und (dem Stoff eigentlich durchaus angemessene) technische Mätzchen vermag es Schweigen, den Roman weitgehend nachvollziehbar nachzuerzählen und als spannenden Science-Fiction-Krimi auf die Bühne zu bringen. Nicht immer ist die Melange aus Apokalypse und Halluzination leicht zu verstehen. Doch die Skurrilität dessen, was erzählt wird, entwickelt Magie und evoziert das stille Grauen eines Wintertages, und die Theater-Ästhetik, die Schweigen und sein Team einsetzen, ist unheimlich, futuristisch, alptraumhaft. Ob es gelingt, die Phantasie des Zuschauers zu entfachen, wie Tomas Schweigen es sich vorgenommen hat? Bei manchem im Publikum zeichnete sich Ratlosigkeit auf den Gesichtern ab. Aber wer sich einlässt, sieht Bilder, die zum Weiterdenken anregen, und empfindet zunehmend Neugier auf die nächsten Alpträume.