Nabelschau eines Schauspielers
Verdis Ouvertüre zu La forza del destino erklingt. Wir sehen einen großen, staubigen Industrieraum mit zwei großen Rolltoren, einer Sprinkleranlage, vier Feuerlöschern und fünf Notbeleuchtungen. Graue Betonwände ersticken schon die Illusion einer Theaterbühne im Keim. Hier soll der von sich überzeugte Staatsschauspieler Bruscon seine Menschheitskomödie „Das Rad der Geschichte“ aufführen. In Utzbach, einem 280-Seelen-Dorf. Eigentlich ist dies eine „Theaterfalle“, so der empörte Künstler. Andreas Beck glänzt in dieser Rolle eines Theatertyrannen, der selbstverliebt von vergangenen Inszenierungen schwafelt und nicht müde wird, sich selbst zu loben. Gleichzeitig lässt dieser Theaterbesessene Hasstiraden über das Theater los (Theater sei eine Perversität, eine Strafanstalt) und macht seine Frau und Tochter, mit denen er - zusammen mit seinem Sohn - durch die Lande tingelt, herunter: „Mit Frauen Theater machen ist eine Katastrophe“, sind sie doch ein „Theaterhemmschuh“ und „talentlose Kinder“. Bruscon macht aus seinen Gefühlen kein Hehl: „Ein talentierter Schauspieler ist so selten wie ein Arschloch im Gesicht.“ Und: „Was Schauspieler darstellen, ist immer falsch dargestellt - verlogen.“ Kritiker sind für ihn „Inkompetenzschmierer“. Und: „An deutschen Theatern kann kein Mensch mehr richtig spielen.“ Besonders heftig ereifert er sich über ein praktisches Thema, den Brandschutz. - Ein Thema, das auch eine Rolle beim Umzug des Dortmunder Theaters in die Ersatzspielstätte spielte.- Am Ende des Stückes von Bruscon muss fünf Minuten lang vollkommene Dunkelheit herrschen. Das muss der örtliche Feuerwehrmann gestatten, dessen Genehmigung der Wirt einholen soll. Uwe Rohbeck, ein schmächtiger, kleiner Mann mit brauner Lockenperücke spielt ihn. Er sagt nicht viel, aber seine Augenaufschläge und sein Kopfschütteln, mit denen er Becks Sprechfluten begleitet, sprechen Bände. Köstlich seine Erläuterung zum „Blutwursttag“.
Zunächst also klassisches Sprechtheater. Ehe die Familie die vom Wirt angepriesene Frittatensuppe essen kann, springt das Geschehen auf den Anfang zurück. Das Tempo zieht an. Beck verändert nun ab und zu etwas den Originaltext. Utzbach liegt nun in Westfalen, wo die Leute „minderbemittelt“ seien. Seine Frau beschimpft er als „vegane Fotze“. Das zu Beginn an der Wand betrachtete Hitlerbild mutiert zu einem Stalinbild. Ein ausgestopfter Eisbär mit später rot glühenden Augen wird hereingeschoben, die Spielweise wird nachlässiger. Bruscons Sohn Ferruccio, der zu Beginn nur einen Arm gebrochen hatte, hat jetzt beide Arme in Gips.
Über der Bühne leuchten die Zahlen 1 bis 9 auf und lassen ahnen: vorbei ist es noch lange nicht. In der nächsten Version tauschen Rohbeck und Beck die Rollen und die Afroperücken. Wobei Beck nun aufgrund seiner Körpermasse bedrohlich wirkt. Rohbeck als Bruscon jedoch leicht tuntenhaft und exaltiert über die Bühne tänzelt, was unheimlich komisch wirkt. Jetzt steht auch das Rad der Geschichte auf der Bühne. Es ist das Räuberrad der Berliner Volksbühne, das mit seinen acht Beinen einem Hakenkreuz ähnlich sieht.
Und schon geht es zur nächsten Station. Christian Freund (der bisher Ferruccio spielte) springt als Musicalsänger mit blonder Perücke auf die Bühne und gibt einen Theatermachersong mit Refrains wie „Blutwursttag“ zum Besten. Janine Kreß (vorher Mutter Bruscon) und Xenia Snagowski (vorher Tochter) mimen in Aerobic-Trikots die Go-Go-Girls. Beck sitzt als Ferruccio total eingegipst wie eine Mumie im Rollstuhl. In der nächsten Version kommen die Frauen zum Zug. Jetzt sind sie die Theatermacherinnen, die posaunen: „Mit Männern Theater machen ist eine Katastrophe.“ Und es wird immer turbulenter, immer skurriler. Xenia Snagowski klettert als Punk zu Techno-Beat schreiend/singend durch den Zuschauerraum, wirbelnde Schriftprojektionen huschen über die Bühne, Theaterblut fließt, der Text wird mehr und mehr zersetzt, verändert. Die Zahlen über der Bühne wechseln schnell von 5 bis 9. Drei Hitler mit schwarzen Tutus tanzen auf der Bühne, die in rotes Licht mit Hakenkreuzen getaucht ist. Das Chaos nimmt zu.
Und endlich - möchte man sagen - ertönt eine Stimme aus dem Off, die die Zuschauer anweist: „Ein technischer Defekt ist vorgefallen. Bitte verlassen Sie das Theater.“ Der eiserne Vorhang senkt sich. Darauf ist zu lesen: DAS ENDE DES THEATERS. Man bleibt erschöpft zurück und ist doch begeistert. Die Wiederholung als das Thema des Theaters. Voges gelingt es, durch diese absolut kreative, zuweilen wahnsinnig erscheinende Umsetzung dieses Themas zu verdeutlichen, was Kunst alles sein kann. Was Unterhaltung sein kann. Aber auch, welche Themen von außerhalb des Theaters eine Rolle spielen, so Frauenfeindlichkeit, so Rechtsradikalismus.
Spannend, verstörend, unterhaltend, aufrüttelnd. Was kann man mehr von einem Theaterabend erwarten?