Verführung als intellektuelles Exerzitium
Die Bühne, die Jörg Zysik für Heiner Müllers Quartett gebaut hat, wäre auch eine perfekte Illustration für den Schauplatz von Sartres Geschlossene Gesellschaft. Die Schauspieler treten aus dem Untergrund durch fünf schwarze rechteckige Kästchen auf, die sie so gut wie nie verlassen. Ebenso schwarz ausgekleidet ist der gesamte Bühnenraum: So könnte Sartres Hölle aussehen, in der die Marquise Merteuil und der Vicomte Valmont (DDR-kompatibel bei Müller ohne Adels-„de“) unweigerlich landen werden, falls irgendein göttlicher Richter noch moralischen Vorstellungen für das Nachleben der Menschen haben sollte. Karge, aber den Reichtum einer bourgeoisen Welt zitierende Kronleuchter bilden die Reminiszenz an die Zeit, in der die Vorlage zu Müllers Quartett spielt. Der Autor hat den Briefroman Gefährliche Liebschaften, Pierre Ambroise Choderlos de Laclos‘ provozierendes Sittengemälde aus dem vorrevolutionären Frankreich, wie eine musikalische Partitur bearbeitet, inhaltlich verschärft und für nur zwei Schauspieler, aber vier Rollen aufbereitet. Den Zeitraum, in dem sein Text angesiedelt ist, hat er in präziser Unmöglichkeit beschrieben: „Zeitraum: Salon vor der Französischen Revolution / Bunker nach dem dritten Weltkrieg“, lautet die dem Stück vorangestellte Regieanweisung. Die Symbiose aus dekadentem 18. und dystopischem 21. Jahrhundert ist Zysik mit seiner Bühne perfekt gelungen.
Aber vielleicht ist das alles ja gar nicht so unmöglich? Der Text legt nahe, dass die zwei Schauspieler tatsächlich nicht vier, sondern nur zwei Personen spielen, die allerdings gelegentlich in die Rollen von zwei anderen Personen schlüpfen - als perfides Spiel im Spiel. Und so könnte man spekulieren, dass auch die Bühne und die Kostüme nur einer Zeit entstammen: nämlich der nach dem dritten Weltkrieg. Die Reminiszenzen an das aristokratische vorrevolutionäre Frankreich wären dann die Kulisse eines erbarmungslosen, nihilistischen Spiels, das die Marquise und der Vicomte miteinander spielen, die Kostüme die Theaterkostüme. L’enfer, c’est l’autre: Die Marquise Merteuil und der Vicomte Valmont haben „das Nichts in ihrer Seele“. Sie quälen einander, und wenn sie sich einmal auf etwas einigen können, dann ist es die Quälerei eines imaginierten Dritten. Die schwarze Bühne erscheint als Äquivalent zur Zombiehaftigkeit der beiden Figuren, die der Apokalypse nach dem dritten Weltkrieg ebenso geschuldet sein mag wie einer zwischen beiden vereinbarten Spielsituation. Die Merteuil ist weißgeschminkt, und in dem zu Beginn leicht aufgedunsen wirkenden Gesicht setzt sich der blutrote Bogen der Oberlippe abwärts in Richtung Kinn fort. Wenn Valmont aus seiner Kiste krabbelt - auch er weiß geschminkt und mit blutrotem Mund -, tauchen als erstes zwei rote Damenschuhe auf, in denen seine Hände stecken.
Valmont war einst der Liebhaber der Merteuil. Beide sind auf unergründliche Weise trotz mehrerer nachfolgender Beziehungen noch miteinander verbunden. Wobei der Begriff „Beziehungen“ bereits in die Irre führt. Denn Liebe, Gefühle, Nähe gibt es nicht in der Welt der Merteuil und des Valmont. Sie kämpfen - und ihre Waffen sind eine gestochen scharfe Sprache und die aufs Äußerste getriebene Trennung von Sex und Gefühl. Wenn in der gegenwärtigen #MeToo-Debatte von der engen Korrelation zwischen Sex und Macht die Rede ist, dann sind Merteuil und Valmont der ultimative Beweis für diese These. Wie in vielen der späteren Texte Müllers erleben wir eine erschreckende Verbindung von Sexualität und Aggression, zwischenmenschlicher Kälte und Tod. Der Bonner Literaturwissenschaftler Bernhard Sorg weist darauf hin, dass in Müllers Text auf der Folie des Laclos-Romans und des vordergründigen Themas der Sexualität der Sachverhalt apokalyptischer Zerstörung behandelt wird und es Müller, passend zu seinem Geschichts-Pessimismus, um „die Enthüllung des wahren Wesens der Welt“ geht.
Für Valmont, Super(casa)nova in den Gefährlichen Liebschaften, ist die Eroberung von Frauen ein Spiel: Zunächst erringt er die Macht über ihre Seelen, dann zerstört er sie. In der Marquise hat er eine ebenbürtige Gegnerin gefunden, die mit nicht minderem Zynismus ihre Machtspiele mit dem Vicomte spielt. Beide gemeinsam spielen sie gegenüber ihren Verführungsopfern: Müller übernimmt den wesentlichen Erzählstrang aus den Gefährlichen Liebschaften und treibt die Machtspiele auf die Spitze: Merteuil und Valmont planen die Verführung der frömmlerischen und tugendhaften Madame Tourvel (in die sich Valmont dann überraschend verliebt) und der jungen Klosterschülerin Volanges. Die Verführung endet bei Choderlos de Laclos ebenso wie bei Müller in endgültiger Vernichtung. Doch ist bei Müller alles nur ein Spiel, herzlos, gefühllos, moralfrei - und klirrend kalt.
Wieweit es noch verschüttete Sehnsüchte zwischen den beiden Ex-Partnern Merteuil und Valmont gibt, mag der Zuschauer selbst beurteilen - Eifersucht schimmert ab und an durch. Das ist vielleicht die einzige Schwäche von Müllers Hochpräzisions-Texts. Denn Gefühle gibt es nicht mehr. „Liebe ist eine Domäne der Domestiken“, erhebt sich die Merteuil über den Pöbel und seine - offenbar moralischere - Art der Zuneigung; „Empfindsamkeit“ und „Tugend“ betrachtet sie als „Infektionskrankheit“, der die Schwachen anheimfallen. Sex dagegen ist die „Sklaverei der Leiber“. Mit Liebe, Erotik oder Nähe hat das nichts zu tun: „Sie haben nicht vergessen, wie man umgeht mit dieser Maschine“, ätzt die Merteuil und meint ihre „Physiologie“: „Nicht dass ich für Sie etwas empfände. Oder vielleicht ist es ihr einfach gleichgültig, an welchem Tier das Instrument ihrer Wollust befestigt ist“. Der Geschlechtsakt als Mechanik: Das ist kalt, das ist erbarmungslos auch im Umgang mit dem einstigen und potentiell künftigen Sexualpartner, und ja: Vielleicht ist diese Kälte und Erbarmungslosigkeit heute tatsächlich das wahre Wesen der Welt. Auch die Verführung der noch moralisch gefestigten Madame de Tourvel und Mademoiselle de Volanges ist bei Müller nichts als ein „rein intellektuelles Exerzitium“ (Bernhard Sorg): ein Rollenspiel, zu dem Stephanie Gossger und Matthias Matz mehrfach die Rollen wechseln: die Frau spielt dann den Valmont, der Mann die Merteuil und beide gelegentlich die Verführungsopfer. Ein Quartett mit zwei Spielern halt - auch das ist irgendwie ein intellektuelles Spiel.
Gossger und Matz machen das am Theater Duisburg grandios. Eiskalt und erbarmungslos ist die Kommunikation zwischen ihren Figuren, und doch bewahren sie sich einen Sinn für Komödiantik und Skurrilität. Es ist köstlich, wenn Stephanie Gossger als Valmont Matthias Matz als die junge Volanges wie ein widerlicher Lustgreis beschnüffelt. Die geschlechterverkehrte Verführungsszene wird nicht nur hinreißend gespielt, sondern sie ist entlarvend für uns Männer. Regisseur Frank Siebenschuh gönnt seinen Schauspielern großartige Tanz-Choreografien und pantomimische Einlagen: Wenn Stephanie Gossger, die sich mit wenigen Handgriffen von der alternden Frau in ein junges Mädchen verwandelt, pantomimisch ihre Verführung spielt, gerät diese Szene zu einer der herausragenden schauspielerischen Miniaturen dieser NRW-Spielzeit. Lust, Angst, Überwältigung spiegeln sich in ihrem Gesicht und ihrer Körpersprache, und wir erleben einen Verführungs-Krimi vom Feinsten. Hat da gerade jemand behauptet, es gebe keine Gefühle in dieser Inszenierung?
Schön sind in dieser Inszenierung aber nicht die Liebenden - schön ist die Musik. Walzer von Chopin zum Beispiel bilden in ihrer einschmeichelnden Harmonie einen Kontrast zu der verletzenden, bisweilen auch drastischen und obszönen Sprache. In der wird recht explizit auf sexuelle Praktiken, auch auf Oral- und Analverkehr angespielt. Regisseur Frank Siebenschuh (aber auch Heiner Müller) rückt den Text in einzelnen Passagen vor allem gegen Ende der gut eineinhalbstündigen Inszenierung in die Nähe zu Marquis de Sade, zu seiner „Philosophie im Boudoir“ beispielsweise. Aber wie bei de Sade wirkt der weitgehend in höfischer Sprache gehaltene Text trotz aller Drastik und Frivolität in hohem Maße elegant, und Stephanie Gossger und Matthias Matz bringen ihn hervorragend zum Klingen. Gern würde man noch ein „Best Of“ der wunderbar boshaften Müller-Formulierungen beifügen - „Quartett“ ist auch ein empfehlenswerter Lesetext.
Am Ende aber steht der Tod. Valmont wird von der Marquise mit Wein vergiftet. „Beten wir, dass die Hölle uns nicht trennt“, hatte er zuvor zu ihr gesagt. Sein Wunsch wird erfüllt. Merteuils letzte Worte lauten: „Jetzt sind wir allein / Krebs mein Geliebter.“ Applaus für eine hinreißende Duisburger Eigenproduktion.