Stolze Mutter, durchgeknallter Sohn
Denn morgen gehört uns Hellas, und bald auch die ganze Welt. Die Hybris des Xerxes kennen wir irgendwoher. Sein Feldzug gegen die Griechen im Jahre 480 v. Chr. war, auch wenn er als Vergeltungsangriff und Fortsetzung des von seinem Vater Dareios begonnenen (und gescheiterten) Werks verkauft wurde, ein Angriffskrieg. Herodot gibt die Rede des Xerxes an das persische Volk wieder: Wenn Griechenland erst unterworfen sei, werde er sich „ganz Europa zu Füßen legen“, putscht der zur Großmannssucht neigende König sein Volk auf. „In der ganzen Welt“ werde es keine Völker mehr geben, „die imstande wären, den Kampf mit uns aufzunehmen … So werden wir sie alle bezwingen, nicht nur die, welche sich gegen uns vergangen, sondern auch die, welche uns nichts zuleide getan haben.“ Au Mann!
Aischylos kämpfte auf der Seite der Griechen gegen die Perser mit und erlebte aus nächster Nähe, wie der große Xerxes mit seiner zahlenmäßig weit überlegenen Flotte bei Salamis vernichtend besiegt wurde. Der Dichter schuf sogleich das älteste vollständig überlieferte Drama der Literaturgeschichte: Die Perser wurden 72 v. Chr. uraufgeführt. Manche bezeichnen diesen Schöpfungsakt als Geburtsstunde eines literarischen Genres: der Tragödie. Das Bemerkenswerteste aber ist, dass der Grieche Aischylos kein Triumphgeheul anstimmt, sondern dass er sein Stück aus der Perspektive des Feindes schreibt. Es spiegelt die Tragik der Niederlage eines Gegners. „Es spricht für den Reifegrad einer Kultur, wenn auf ihren Bühnen das Drama der Anderen darstellbar wird“, schreibt der deutsche Lyriker Durs Grünbein dazu, dessen Neu-Übertragung des altgriechischen Textes ins Deutsche der Aufführung des Akademietheaters Wien zugrunde liegt. Aber Aischylos liefert auch ein abschreckendes Beispiel: von der Hybris eines Herrschers, dem Anfangserfolge zu Kopf stiegen und der dann jede Diplomatie und jede Vorsicht über Bord wirft und krachend scheitert. Es ist, als wolle Aischylos uns vor Donald Trump und John Bolton warnen.
Babylon, strotzend vor Gold, sandte also sein Völkergemisch aus. Und wartet jetzt auf Nachricht von der Front. Golden Eyes, Golden Face, Golden Body, Golden Dress mit goldener Schleppe, die fast bis an die Brandmauer reicht - so steht sie da an Duisburgs naher Rampe, mit Stolz und Reichtum prangend: Atossa, die Königinmutter, bleibt lange stumm und unbeweglich, eine stolze lebendige Statue, gewappnet mit einem Panzer gegen die Anfechtungen von der Nachrichtenfront. Wie sich das gehört im hierarchischen Persien, steht das Volk (Falk Rockstroh als Ein-Mann-Chor) ganz hinten an der Mauer und Christiane von Poelnitz in maximaler Entfernung prominent vorn vorm Parkett. Stolz kann Atossa sein auf ihr Land und ihren erfolgreichen Sohn, der sich auch im Griechen-Feldzug zunächst keineswegs ungeschickt angestellt hat. Doch dann poltert plötzlich und erschreckend eine riesige Deckenplatte vom Bühnendach herab, schwingt haarscharf an Atossa vorbei und wirbelt mächtig Staub auf. Mit ihr erscheint ein Bote mit der Hiobsnachricht: Markus Hering, dreckverkrustet, berichtet nicht nur von der vollständigen Vernichtung der persischen Flotte, sondern auch von der Demütigung des sich bislang so überlegen fühlenden persischen Volkes: „In Athen ging kein einziger Ziegel zu Bruch.“ Selbst die Flucht wird zum Desaster: Der Wintereinbruch kostet weitere Opfer; Sturm und Griechen spielen Schiffeversenken zu Lasten der wehrlosen persischen Flotte. Endlos zählt Markus Hering die Namen der gefallenen Helden auf: Artembares, Amphistreus, Pharnuchus, Dadaces und wie sie alle heißen. Die Totentafel ziert die Titelseite des Wiener Programmheftes; auf den Innenseiten finden wir die Totentafeln von Kriegerdenkmälern und Holocaust-Opfern aus drei verschiedenen Kontinenten - die Welt hat nicht gelernt in den letzten 2500 Jahren.
Das Grauen steigert sich mit jedem Namen, und jeder Name ist ein Angriff auf den Panzer der goldglänzenden Queen Mother an der Rampe. Perfekt spielt Christiane von Poelnitz das Bemühen um Aufrechterhaltung ihrer Contenance und ihrer Unnahbarkeit bei immer stärkerer Erschütterung. Der Chor beginnt zu klagen und dem bislang vergötterten König Xerxes seine Fehler vorzuwerfen. Atossas Fassade bröckelt, und der Reichtum geht dahin: Unter archaischem Jammer wirft die Königinmutter mit heftiger Gebärde ihre goldene Kleidung ab, steht dann da im bodenlangen trauerschwarzen Unterkleid und klammert sich doch an ihren Stolz. Der bald jedoch in Wut umschlägt. „Wie ist das alles gekommen, mein König?“, hatte der Chor verzweifelt gefragt, und Atossa ahnt es: „Xerxes, der Unbeherrschte - den ganzen Kontinent gab er preis“, wütet sie. In der Niederlage schlägt der Stolz auf den Sohn und König in Wut um. Es gibt keine Loyalität in Politik und Kriegshandwerk - das ist wie 2017/18 bei Martin Schulz: Kaum macht der Heilsbringer einen entscheidenden Fehler, wird er vom eigenen Volk zum Teufel gewünscht. Zum zweiten Mal war die Deckenplatte mit Aplomb aus ihrer Verankerung gekippt. Der Geist von Dareios war erschienen und dem großen Branko Samarovski mit verwegen rollendem R unfreiwillig ins Lächerliche verrutscht. Er äußert eine düstere Zukunftsvision für das Reich der Perser: Bis in die dritte Generation und weiter werde das Land für seine Hybris bestraft. Aischylos konnte es noch nicht wissen, aber die Niederlage bei Salamis läutete tatsächlich das Ende des persischen Weltreiches ein.
Die Deckenplatte schwingt ein letztes Mal herunter. Laut schreiend und klagend erscheint der Verursacher des ganzen Desasters. Merlin Sandmeyer, lehmverkrustet und blutig, zieht sich nackt aus. So wie sie ihn geboren hat, kriecht Xerxes in den Schoß seiner Mutter, und die beiden bilden im Schlussbild eine merkwürdige Pietà. Dass Atossa Mitleid empfände mit ihrem in seiner Niederlage irre gewordenen, durchgeknallten Sohn, dass sie ihm wirklich Wärme und Nähe gäbe, lässt sich nicht behaupten. Sei bleibt kalt, verletzt in ihrem Stolz. Der Chor verzweifelt - wie immer wird das Volk ausbaden, was die Mächtigen verbockt haben.
Michael Thalheimers Inszenierung reiht sich perfekt ein in die letzten beiden Gastspiele von Inszenierungen griechischer Tragödienstoffe dieses Regisseurs im Theater Duisburg. Wie bei seinen beiden Frankfurter Arbeiten, Euripides‘ Medea (siehe hier) und Kleists Penthesilea (siehe hier) wird auf einer kühlen, abstrakten Bühne gespielt, bei deren Gestaltung sich Olaf Altmann noch stärker zurückgehalten hat als bei den eleganten grauen Flächen der beiden Vorgänger-Inszenierungen. Thalheimers Beschäftigung mit dem Stoff ist von tiefem Ernst und griechischem Pathos; dem selten gespielten, vorwiegend aus langen Monologen bestehenden und nur einen geringen Spannungsbogen aufweisenden Text entlockt der Regisseur dramatische Qualitäten. Es ist eine düstere, blutige und in ihren besten Momenten beklemmende Dramatik, die Thalheimer zum Vorschein zaubert, aber es ist auch ein anstrengendes Exerzitium für ausgeprägte Freunde klassischen Theaters. Phantastische Schauspieler bringen die Wucht und Tragik der Inszenierung zur Wirkung. Christiane von Poelnitz bewirbt sich mit ihrer monumentalen Atossa um die Auszeichnung als Schauspielerin des Jahres; Falk Rockstroh gibt einen beeindruckenden Ein-Mann-Chor, und Markus Hering nimmt man die Traumatisierung durch die unerwartete Kriegsniederlage unbesehen ab. Die überregionale Kritik feiert neben von Poelnitz vor allem Merlin Sandmeyer als Xerxes. Dem möchte sich der Rezensent nicht anschließen. Sandmeyers manierierte Sprechweise und seine Rolleninterpretation als ins Kleinkindalter regredierter, jegliche intellektuelle Auseinandersetzung mit seiner Situation verweigernder Irrer erscheint wenig überzeugend. Aber das ist nicht mehr als eine kleine Schramme an einer Inszenierung von hohem Perfektionsgrad, die - wie so oft bei Thalheimer - zwar nicht das Herz erreicht, aber den Verstand auf Hochtouren bringt.