Agitprop am Sozialäquator
Die wohlgesinnte Presseabteilung hat den Rezensenten in den Süden platziert. Alles andere wäre ja auch noch schöner: Schließlich hat der Schreiber dieser Zeilen eine Banker-Vergangenheit, und als Theaterrezensent gehört er im weitesten Sinne zum Bildungsbürgertum. Solche Menschen wohnen selbstverständlich im Essener Süden. Auf der Nordseite fehlen heute sogar die Stühle. Dort tritt das Essener Prekariat auf, während sich das Publikum die Beine in den Bauch steht. Es muss sich auch mit einem kleineren, weniger hochauflösenden Bildschirm zufriedengeben, wenn es aus der Ferne mal am Leben und Speisen in der besseren Welt teilhaben möchte - nur als Beobachter selbstverständlich. Dort, wo der Rezensent sich im bequemen Sessel fläzt, gibt es eine riesige Videoleinwand mit gestochen scharfen Bildern, und die Spieler auf der Bühne stammen aus dem reichen Essener Süden. In der Mitte zwischen beiden Welten wurde - längs durch den Zuschauerraum des Grillo-Theaters - eine Mauer gezogen. Drüber gucken können wir nicht, aber was da bei den Prolls aus dem Norden abgeht, können wir hören. Drüber steigen können zunächst nur die Lehrer. Aber natürlich - Sie haben es sich längst gedacht - tauschen wir irgendwann die Plätze.
Es ist der Essener Sozialäquator, den diese Mauer symbolisiert. So wird die Stadtautobahn A40 genannt, die - grob über den Daumen - den reichen Essener Süden vom armen, heute stark migrantisch geprägten Essener Norden trennt. Es soll im Essener Süden Leute geben, die noch nie im Norden waren. (Das glauben wir nicht, denn in Stoppenberg, gleich neben dem Brennpunkt Katernberg, liegt das Weltkulturerbe Zeche Zollverein mit einem klasse Restaurant und tollen Kulturangeboten für den intellektuell, kulturell und kulinarisch interessierten Bourgeois.) Im Essener Norden wiederum soll es Leute geben, die waren noch nie im wunderschönen Süden. Das glauben wir schon eher, obwohl wir ein paar Euro darauf wetten möchten, dass die Putzfrau der Familie aus Kettwig zum Zwecke fremder Raumpflege aus dem Norden anreist. In Bredeney residieren die Familien der Aldi-Brüder, in Katernberg lungern die Türken mit den Aldi-Tüten rum.
Soweit das Klischee. Soweit leider auch die Wahrheit - cum grano salis jedenfalls. Regisseur Volker Lösch spielt gerne mit dem Klischee, und er hat keine Angst vor holzschnittartigen Vereinfachungen. Aber für sein Theaterprojekt am Schauspiel Essen hat er Nord und Süd ganz real aufeinanderprallen lassen. Er hat jeweils acht Jugendliche aus dem Norden und aus dem Süden gecastet. Die trafen dann nicht nur in einer Laborsituation aufeinander, sondern sie haben einander besucht, miteinander geredet und miteinander Utopien entworfen. Sie haben jeweils eine Welt kennengelernt, die für die meisten von ihnen völlig unbekannt war. Derweil haben Volker Lösch und seine Dramaturgin Christine Lang Interviews mit Eltern, Lehrern und Sozialarbeitern geführt und die Texte aus Interviews sowie aus den Gesprächen der Jugendlichen zu einem Stück montiert. Ganz von fern stand dafür Mark Twains historischer Roman Der Prinz und der Bettelknabe Pate. Die Geschichte von den beiden Kindern, die am gleichen Tag geboren werden und einander so ähnlich sehen wie ein Ei dem anderen, die aber aus den beiden entgegengesetzten Enden des sozialen Spektrums stammen, zieht sich auch bei Lösch als roter Faden durch die Aufführung. Vor allem aus dem Süden werden auf kabarettistische Weise die Leiden des jungen Aldi erzählt, der in einer superreichen Familie von protestantischer Lebensart aufwächst. Doch die Zwillings-Geschichte ist eigentlich verzichtbar, denn es geht um nichts anderes als um Sozialpolitik.
„It is your human environment that makes climate.“ Das ist Original-Twain und einer der wenigen Sätze, die in dieser Aufführung von dem US-amerikanischen Schriftsteller, Spötter und Gesellschaftskritiker zitiert werden - nicht aus Der Prinz und der Bettelknabe, sondern aus der Reise um die Welt. Schnell haben die Jugendlichen erkannt, dass der Satz auch heute noch wahr ist. Im Süden übt sich der Nachwuchs aus gutem Hause im Bogenschießen oder in klassischer Musik. Für die Schule bekommt er „hochqualifizierte Lernbegleiter“; die Begegnung mit Magersucht und Depression ist kaum zu vermeiden. „Ich interessiere mich nicht für irgendwelche Rapper, sondern für Dürrenmatt und Tschaikowski“, sagt einer der in Popper-Jacken und mit Popper-Frisuren auftretenden Südstaatler, und während selbst der in einem ausgesprochen bildungshungrigen Lehrer-Haushalt aufgewachsene Rezensent vor Staunen den Mund nicht mehr zukriegt, kommt der Spruch erstaunlicherweise ohne die Attitüde von Arroganz oder Aufgesetztheit rüber. Weltfremd ist das trotzdem, ein nicht zu verallgemeinernder Einzelfall - und ein Musterbeispiel für die Arbeit von Lösch mit skrupellosem Agitprop.
Im Norden „schreien die Lehrer uns einfach nur an“, berichten die Schüler, und eine Lehrerin bringt das Problem auf den Punkt: „Wir haben Kinder, die das Ziel haben, Hartz IV zu bekommen.“ Der Ton im Norden ist rau (auf der Bühne in eher abgeschwächter Form); die Begegnung mit Drogen ist kaum zu vermeiden, und der von den Jugendlichen geschätzte Sozialarbeiter („harte Schale, weicher Kern“) weiß: „Wenn die Polizei nicht kommen muss, ist das ein Erfolg.“ - Aufgeworfen wird die Frage nach dem richtigen Environment, dem richtigen Klima für die Vermittlung von Bildung. Mark Twain hat das vielleicht zu sehr vereinfacht: „Training is everything. The peach was once a bitter almond; cauliflower is nothing but cabbage with a college education.” - Ja, wenn es mit der Erzielung von Bildungserfolgen doch so einfach wäre…
Ist es natürlich nicht. Natürlich erfordert es erheblich mehr Kraft und Eigeninitiative, Bildungs- und Aufstiegschancen zu nutzen, wenn man auf der falschen Seite des Sozialäquators lebt. Zurecht spricht die Aufführung auch von „Selbstentfaltung statt Selbstverwertung“. In einer Spielszene trifft sie die Ursache unseres heutigen Populisten-Problems auf den Punkt. Wie bei Mark Twain tauschen die Prinzen aus dem Süden und die Bettelknaben aus dem Norden die Rollen, und die bislang Unterprivilegierten verfügen plötzlich über die Millionen. Als sie die von ihrem Filialleiter drangsalierte und schließlich entlassene Supermarktverkäuferin mit ihrem neuen Reichtum entschädigen und unterstützen wollen, zeigt sich diese an monetären Segnungen verhältnismäßig uninteressiert. Ihr primärer Wunsch ist es, als Individuum wahrgenommen und mit ihren Sorgen ernst genommen zu werden. Das Erstarken populistischer Parteien dürfte in erster Linie darauf zurückzuführen sein, dass Politik und Bürgertum die Ängste der einfachen Bevölkerung ignoriert und diese sich nicht wahrgenommen fühlt.
Oft aber sind Lang und Lösch im Bemühen um politisch engagiertes Theater und aufrüttelndes Copy & Paste aus den Aussagen der Experten des Alltags mächtig die Gäule durchgegangen. Ausgewogen war Löschs Agitprop eigentlich nie. Selten sahen wir uns im Theater mit so vielen Klischees konfrontiert. Selten aber auch wurden im Theater innerhalb von zweieinhalb Stunden so viele ernsthafte Probleme der Sozialpolitik thematisiert. Da wird die Gesamtschule dem diversifizierten Schulsystem gegenübergestellt; in Spielszenen unter Beteiligung echter Schauspieler wird die Ausbeutung von Angestellten beim Discounter zur Schau gestellt, das Wachstumsziel wird kritisiert, die Erhöhung der Erbschaftssteuer gefordert, der Sozialneid gefördert - wie stets bei Lösch kommt die Argumentation aus der ganz linken Ecke.
Es ist wieder eine dieser Aufführungen, die eigentlich zwei Rezensenten benötigten: den einen, der mit ökonomischem Verstand und Realitätssinn ausgestattet ist, und den anderen, der die Begeisterung für Utopien und Ideologien teilt. Die vorgeschlagenen und mal mehr, mal weniger offen propagierten Richtungsänderungen in Politik und Wirtschaft würden als erstes den Mittelstand in den Ruin treiben, damit die Basis für die in vielen Regionen Deutschlands erreichte Vollbeschäftigung zerstören und anschließend zum Zusammenbruch der staatlichen Finanzkraft, des Arbeitsmarkts und der Produktion führen. Aber man wird ja noch mal spinnen dürfen. Manche der Vorschläge, die Schauspieler und Laien auf der Bühne machen, sind bedenkenswert und liefern gute Ansätze für eine ernsthafte Diskussion - ohne den Agitprop, den Lösch auf der Bühne veranstaltet und der übrigens in manchen Szenen mitreißend, mit großer Kraft und einem tollen Rhythmus rüberkommt.
Aber ohne Leistungsprinzip wird es nicht gehen. Auf entlarvende Art zeigt dies der dritte Teil der Aufführung: Alle Zuschauer werden nun gemeinsam auf die Bühne geführt, und die jungen, hochengagierten jugendlichen Akteure aus Nord und Süd präsentieren ihre Utopien, ihre Wünsche für die Zukunft sowie das politische Instrumentarium, mit dem sie diese Wünsche wahr werden lassen möchten. Lösch hat alles zugelassen, was den Jugendlichen in den Sinn kam. Da trennt sich die Spreu vom Weizen: Wunderschöne Utopien treffen auf bodenlose Naivität. Wenn all das umgesetzt würde, was sich die Jugendlichen wünschen, wäre unser Staat in weniger als 20 Jahren knatschkaputt. Aber es gibt Jugendliche, die hervorragende, durchdachte und tiefgründige Ideen präsentieren. Es gibt viele, deren gute Ansätze nicht zu Ende gedacht sind, weil sie die Konsequenzen ihres Vorschlags nicht bedenken. Geschenkt: Diese jungen Menschen werden aufgrund ihres Engagements und ihrer intensiven Beschäftigung mit den sozialen Problemen unseres Staates wachsen und sich hoffentlich weiter einbringen in die Zukunftsgestaltung unserer Gesellschaft. Gute und weniger gute Vorschläge kommen übrigens von beiden Seiten des Sozialäquators. Es gibt also Hoffnung für den Norden. Nur stellt sich die Frage, wie eigentlich das dort vorhandene Potential gehoben werden kann. Löschs Inszenierung ist ein guter Anfang.