Schlimmstmögliches Durcheinander - etwas entwirrt
In seinen „21 Punkten zu den Physikern“ hat Friedrich Dürrenmatt als Nr. 3 proklamiert: „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat“. Im „Literarischen Quartett“ vom 12. Oktober 1989 hat Hellmuth Karasek Dürrenmatts letzten Roman Durcheinandertal als „schlimmstmögliche Wendung“ in der (ein Jahr später zu Ende gehenden) Lebensgeschichte des Dichters bezeichnet. Karaseks Kollegen teilten das vernichtende Urteil: „Der Roman heißt nicht nur so, er ist auch ein heilloses Durcheinander“. Und Reich-Ranicki brachte es auf den Punkt: „Wer berühmt ist, kann jeden Dreck publizieren“.
Das Landestheater Detmold hat jetzt wieder einmal einen Roman auf seinen Spielplan gesetzt und sich dafür ausgerechnet Dürrenmatts „schlimmstmögliche Wendung“ ausgesucht. Was an der Durcheinandertal-Inszenierung am meisten beeindruckt, ist die Chuzpe, mit der zu Beginn die oben zitierten „Highlights“ des „Quartetts“ als Videoprojektion auf den noch geschlossenen Vorhang geworfen werden. Warum macht man das? Entweder teilen die Verantwortlichen die Meinung von Reich-Ranicki & Co. und wollen ihr Publikum schon mal schonend auf das „Durcheinander“ vorbereiten - dann wäre es besser gewesen, rechtzeitig die Notbremse zu ziehen und vielleicht auf eines der guten Stücke des Dramatikers auszuweichen. Oder: sie glauben tatsächlich, das „Quartett“ insofern vorführen zu können, als sie mit ihrer Inszenierung die Zuschauer von der Qualität des Werks überzeugen. Das ist dann allenfalls teilweise gelungen, wie drei - nicht unbedingt repräsentative - Reaktionen von Bekannten zeigen: „Wir haben genug gesehen“ (ein Ehepaar in der Pause, beim Verlassen des Theaters); „Ich versteh’s nicht“ (ein erfahrener Theatergänger im Pausengespräch); „Fürchterlich!“ (nach Schluss an der Garderobe).
Die Story. – Die Story?
Versuchen wir, die Geschichte zu skizzieren: Moses Melker ist Mädchenschänder und -mörder, Ehefrauen-Serien-Killer und Prophet einer neuen Glaubensrichtung, die den Allerreichsten - entgegen dem Axiom von Kamel und Nadelöhr - zur ewigen Seligkeit verhelfen will. Zu diesem Zweck bekommt er von einer dubiosen Organisation ein Kurhaus im Schweizer Durcheinandertal zur Verfügung gestellt, in dem er jeden Sommer den Millionären und Milliardären die Gnade der Armut vermittelt. Im Winter dient dieses Kurhaus als Versteck für die globale Schwerverbrecher-Elite.
Das hätte schön immer so weitergehen können. Doch in der Langeweile dieses Zauberbergs vergewaltigt ein Mafia-Spitzen-Killer Elsi, die 14jährige Tochter des Gemeindepräsidenten. Dem frühreifen Mädchen kommt die heftige Annäherung keineswegs ungelegen, doch leider meint ihr Hund Mani, er müsse seine Herrin verteidigen und beißt den Kumpan des Täters. Dass der treue Hund nunmehr als gefährlich gilt und getötet werden soll, erweist sich im Kontext des Buches als geradezu realistischer Erzählstrang. Aber keine Angst: der Realismus hält nicht lange vor, denn bald schon wird die Schweizer Armee in Marsch gesetzt, das Hundeleben mit Kanonenschüssen zu beenden …
Rund um diese Geschichte rankt sich eine Fülle von abstrusen Arabesken, agieren Heerscharen obskurer Gestalten, zum Beispiel der liechtensteinische Reichsgraf von Kücksen: ein Kunsthändler der schon mal gefälschte Bilder als echte, ebenso aber auch echte als gefälschte verkauft. Und es gibt einen Pantheon: ein Gott mit und einer ohne Bart, die aber außer Verwirrung zu stiften nicht viel zu tun haben, im Gegensatz zum „Großen Alten“, der in Wirklichkeit womöglich ein Mafia-Boss ist, so wie es sich bei seinen Erzengeln um korrupte Schönheits-Chirurgen oder verbrecherische Anwälte handelt. Sie treffen sich mit Oberteufel Belial und dessen Unterteufeln (welche Spiegelbilder der Himmlischen, vielleicht aber auch mit ihnen identisch sind) zur Konferenz „weit südlich des König-Haakon-Plateaus in der Antarktis“ (der Südpol ist Teil des Haakon-Plateaus, also geht weiter südlich - eigentlich - nicht!), und zwar regelmäßig: heute im ewigen (?) Eis, beim vorigen Mal in einem eher tropischen Ambiente (das muss dann vor mindestens 30, wahrscheinlicher vor über 100 Millionen Jahren gewesen sein).
Für das Ende - Götterdämmerung! - sorgt dann eine Feuersbrunst, welcher Kurhaus und Dorf zum Opfer fallen. Es überleben - hoffnung-nährendes Erlösungsmotiv! - die miss(?)brauchte Elsi und ihr vielverfolgter Hund Mani:
„Sie schaute auf die lodernde Feuerwand, welche die Bewohner des Dorfes verschlungen hatte. Sie lächelte. Das Kind hüpfte vor Freude in ihrem Bauch“.
Schweiz-Satire
Will man etwas Freundliches über den Roman sagen, könnte man ihn eine Satire auf die eidgenössische Heimat des Dichters nennen. Sicher: wir Ausländer mögen (und mochten im Erscheinungsjahr 1989, als Schweizer Konten noch bomben- und vor allem CD-sicher waren) das Bild einer beschaulich-ordentlichen Schweiz vor Augen haben. Aber vielleicht empfand der Schweizer das anders: beklagte dieses „Durcheinander“ in den politischen Entscheidungen, die vorzugsweise „im Ochsen beim Jassen“ getroffen wurden; rätselte über die Unüberschaubarkeit der Funktionen der Volksrepräsentanten (der Gemeindepräsident scheint nichts anderes zu tun zu haben, als nicht auf seine frühreife Tochter aufzupassen und mit seinem Findelhund Gespräche über die Weltläufte zu führen); oder verzweifelte gar an dem Durcheinander von National-, Bundes- und Stiftungsräten, die alle mit derart vielen Treuhänder-, Aufsichtsrat- und Stiftungs-Mandaten ausgestattet waren (sind?), dass schon mal der Überblick über die Mandate - und erst recht über die vertretenen Institutionen - verloren gehen kann. Der Große Alte (ohne Bart) wäre dann die Personifizierung des Finanzkapitalismus eidgenössischer Prägung:
„seine Allmacht äußerte sich in seiner Unfaßbarkeit. Keine Polizei versuchte ihn zu ergreifen, zu viele Fäden liefen bei ihm zusammen. Wem allem hatten nicht seine Banken Nummernkonten verschafft, bei welchen Multis besaß er nicht die Aktienmehrheit, und bei welchen Waffenschiebungen hatte er nicht die Hände im Spiel, welche Regierung korrumpierte er nicht ….?“
Die Inszenierung
Ein Pluspunkt: Dramaturg Christian Katzschmann und Regisseur Ron Zimmering haben Dürrenmatts „heilloses Durcheinander“ etwas entwirrt. Was ich sonst bei Roman-Dramatisierungen beklage, dass durch Kürzungen viel Inhalt verloren geht, erweist sich hier als Segen. - Durchaus akzeptabel: das sparsame Bühnenbild: Zwar wieder mal die unverwüstlich-langweilige schiefe Ebene, die hier aber gut geeignet ist, das Personal dieses Stücks übersichtlich aufzureihen, auf dass es sich selbst dem Publikum vorstelle (und damit so manche Unklarheit aus dem Originaltext vermeide). Ansonsten kaum Kulisse; nur das Kurhaus erscheint in Leuchtschrift als „HAUS DER ARMUT“ (woraus durch Ausschalten einzelner Buchstaben im Lauf des Abends mal „AUS ARMUT“ wird, mal „DE MUT“ - nicht schlecht!).
Ganz witzig: dass der Dichter im Stück ein bisschen wie Dürrenmatt aussieht; vielleicht nachdenkenswert: ein paar Texteinschübe: Elsi übersetzt die Botschaft des neuen Propheten in shakespearsches Hexen-Geraune: „Reich ist arm und arm ist reich“. Und ausgerechnet die Insassen des dubiosen Kurhauses behaupten: „Wir sind das Volk“.
Schweiz-Satire?
Apropos „Volk“: ganz zu Beginn jodelt Kerstin Klinder ein bisschen. Aber ob wir deshalb in der Schweiz sind? Die schiefe Ebene als Berglandschaft? Reicht nicht. - Dass ein paar typische Schweizer Ausdrücke ins Deutsche übersetzt werden (aus „jassen“ wird „Skat spielen“) ist verdienstlich; aber dass das Heimatidiom Dürrenmatts überhaupt nicht vorkommt (außer - vielleicht - in ein paar wenigen, völlig unverständlichen Silben), das irritiert. Wenn der Regierungspräsident in Sebastian-Kurz-Attitüde auftritt und genau so, also breitestes Österreichisch spricht, so wirkt das peinlich: hält der Schauspieler das für Schwyzerdütsch? Oder kann er das halt nicht und glaubt, das Publikum würde den Unterschied nicht merken? Oder versucht man zu kaschieren, dass keiner am Landestheater das Schweizer Idiom hinreichend beherrscht und lässt deshalb - wenn schon, denn schon - die Polizisten in bayrischem, Berliner und hessischem (?) Dialekt parlieren? Da hätten sie dann besser ordentliches Hochdeutsch gesprochen. Aber nehmen wir einfach mal an, dass so die Allgemeingültigkeit der geschilderten Verhältnisse behauptet werden soll.
Nur so ganz nebenbei: die Dialekte beeinträchtigen auch die Verständlichkeit, ebenso wie die Tatsache, dass der „Große Alte“ die Saiten seiner Geige und seine eigenen Stimmbänder malträtiert und damit - gefühlt: andauernd - die gesprochenen Texte übertönt. Wenigstens für das ständige Husten eines undisziplinierten Publikums kann das Theater nichts.
Bei aller Kritik …
… wer Dürrenmatts Werk kennenlernen möchte, hat in der Inszenierung eine empfehlenswerte Alternative zum Originaltext.
Im Übrigen sollten passionierte Landestheater-Besucher schon deshalb hingehen, weil dies die letzte große Ensemble-Inszenierung der Ära Metzger ist, bevor sich ein guter Teil des Personals in alle Himmelsrichtungen verläuft. Insbesondere da zu den Stärken der Inszenierung ein paar recht gute Schauspielerleistungen gehören (nur als Beispiele: mal wieder Kerstin Klinder, als totgeweihte Ehefrau sowie die - nicht mehr ganz - Neue Kathrin Berg als beeindruckende Elsi).