Scherz, Ironie, Absurde und tiefere Bedeutung
David gegen Goliath: Was theater:pur versucht, ist in höchstem Maße unfair. Das Thalia Theater Hamburg, einer der großen Theater-Tanker im deutschsprachigen Raum, tritt im Inszenierungsvergleich an gegen das Rottstr5 Theater Bochum, eine Klitsche der Freien Szene am Rande des Bochumer Rotlichtviertels, die in ihrer einzigen Spielstätte maximal 65 Zuschauer fasst. Beide Theater haben sich an Homers Odyssee getraut. Beide inszenieren in kleiner Besetzung. Beide entdecken unendlich viel Humor in der monumentalen Vorlage. Das Thalia Theater wurde mit seiner Produktion zum Berliner Theatertreffen 2018 eingeladen. Von der Produktion in der Rottstraße 5 wissen nur Insider. Dabei ist das Vergnügen in Bochum nicht geringer als in Hamburg.
Niemand geht ungestraft unter Palmen: Humorvoll-respektvoller Antiken-Slapstick in Bochum
„Zeus verstärkte die Winde zu einem tosenden Sturm.“ – Das Zitat fällt spät an diesem kurzen Abend in der Bochumer Rottstraße, aber begriffen haben wir es schon in der Auftaktszene. Gleich nachdem Hans Albers den Wind von Norden besungen hat, der an diesem Abend übers Mittelmeer weht, erheben sich Sturm, Nebel und Wolken in der kleinen Höhle des hochkreativen Off-Theaters. Bedrohlich rollen die Wellen in der Dunkelheit gegen den Strand. Nein, nein, wir werden nicht nass; wir sehen auch nur wenig, aber wir hören umso mehr. Das Theater spielt schon zu Beginn mit unserer Phantasie. Das Mittelmeer: Da gab’s schon damals Flüchtlinge und Schiffbrüchige…
Was wir im schummrigen Licht einer Schiffslampe sehen, sind ein paar Wassereimer und ein bisschen Muttererde, die die kargen Steine des Theaters bedeckt. Die Schauspieler kneten ein bisschen in der Muttke herum: Wasser und karger Boden, der die Reisenden nicht immer nährt, werden die dauerhaften Begleiter von Odysseus und seinen Gefährten auf ihrer zwanzigjährigen Irrfahrt nach dem Trojanischem Krieg. Manchmal werden Wasser und Erde zu feindlichen Elementen; manchmal werden Ody & Co. aber auch freundlich aufgenommen von den Bewohnern der Inseln, an deren Ufer sie verschlagen werden. Odysseus stellt sicherheitshalber einen Antrag bei den Göttern, dass man ihn sicher nach Hause geleiten möge. Doch die senken erstmal den Daumen. Faul sei der Kriegsheld, sieben Jahre habe er sich am Strand bei der Nymphe Kalypso vergnügt. Und so behält der olle Goethe wieder einmal recht: Niemand geht ungestraft unter Palmen.
Maximilian Pulst gibt den Odysseus. Der kräftige, gut gebaute Schauspieler sieht aus, als hätte er den griechischen Bildhauern für ihre beeindruckenden Helden-Statuen Modell gestanden. Pulst hat längst seine Kalypso gefunden: Bereits im zweiten Jahr steht er im Ensemble des Staatstheaters Wiesbaden, und das kleine Bochumer Rottstraßen-Theater ist dankbar, dass das Hessische Staatstheater ihn immer mal wieder für einen Gastauftritt freigibt, während bei den alten Griechen der Götterbote Hermes höchstpersönlich auf die Insel Ogygia reisen musste, um die Freigabe des Helden zu bewirken. - Kaum hat Odysseus Ogygia per schwankendem Floß verlassen, schickt Poseidon einen schweren Sturm, in dem die Schauspieler mächtig ins Schwanken geraten: „Nackt trieb (Odysseus) zwei Tage und Nächte im starken Gewoge.“ Mit spannendem, aber auch witzigem Körpertheater und chorischer Sprache erzählen die vier Akteure vom Schiffbruch nach dem Ende ihres Kalyptischen Abenteuers. Als Ody endlich wieder Boden unter den Füßen hat, fällt er erstmal in Ohnmacht. „Go to sleep little babe“, singen die Akteure: „You and me and the devil makes three…“
Es waltet eine besondere Ironie über dem Fall dieser Inszenierung. Da wird durchaus das alte Helden-Epos der Odyssee erzählt, und manchmal genießen wir sogar Teile der archaisch anmutenden pathetischen Sprache. Diese kurzen Passagen zeigen den Respekt, den Regisseur Daniel Kunze und seine Schauspieler dem alten Stoff durchaus nicht versagen. Aber bevor irgendjemand auch nur ansatzweise in diesem Pathos baden gehen könnte, wird es gebrochen: durch ironische Musik oder sprachliche Einsprengsel, durch geschickte Text-Montagen, durch wunderbaren, aber niemals albernen Slapstick. Hier sind keine Helden unterwegs, sondern Abenteurer, die ihre Weltumseglung irgendwie nicht ausreichend vorbereitet haben.
Die Schauspieler vermögen diese Ironie wunderbar zu transportieren. Da ist das Erschrecken groß, als die junge Nausikaa den nackten Odysseus am Strand findet. Odysseus, nicht auf den Mund gefallen, macht der Königstochter Komplimente; Lea Kallmeier, die alle weiblichen Rollen in der Aufführung spielt, gibt sich auf eine wunderbar ironische Weise geschmeichelt, Nicht nur die Inselbewohner lachen, als es über Nausikaa heißt: „Odysseus erblickte einst eine Palme von ähnlich herrlichem Wuchs…“ Mit Grönemeyer-Zitaten setzen sich Odysseus und Nausikaas königlicher Vater über die Frage auseinander: „Was ist der Mensch?“ König Akinoos gibt eher den Esoteriker und Philosophen, Odysseus dagegen ist pragmatischer. Und hinter Grönemeyers populärkultureller Auseinandersetzung mit dem Menschsein steht in Daniel Kunzes noch während dessen Studentenzeit an der Folkwang-Hochschule entstandener Inszenierung die Philosophie des Absurden von Albert Camus. Ziele setzen, Ziele erreichen, dadurch neue Ziele finden und verfolgen – und immer so weiter unter dem Jägermond – das soll der Sinn des Lebens sein? Darin steckt auch ein wenig Sehnsucht nach dem Heldenstatus, und irgendwie ist das auch die Philosophie in jedem modernen Wirtschaftsunternehmen. Denkt man darüber nach, erfasst einen eine große Müdigkeit: Wer immer strebend sich bemüht, der kommt auch nie zur Ruhe. Odysseus’ Gefährten erkennen das. Auch unser Kriegsheld ist manchmal müde – kriegsmüde. Nur noch kurz die Freier von Penelopes Hof jagen – die Welt retten können dann andere.
Zunächst aber geht es weiter: in die Höhle des Polyphem, zu Kirke, wo die Gefährten in Schweine verwandelt werden, in den Hades, vorbei an Skylla und Charybdis. In der Unterwelt wird nur mit Hilfe einer Taschenlampe und der Nebelmaschine eine mystische, unheimliche Stimmung erzeugt, und wir staunen wieder einmal, was das arme Theater mit seinen wenigen Mitteln alles kann. Sämtliche Abenteuer des Odysseus werden in Kunzes Inszenierung auf vergnügliche, oft sehr temperamentvolle Weise angesprochen. Dieses Temperament unterscheidet die Inszenierung von der ruhigeren, dem Gang der antiken Handlung viel weniger folgenden Inszenierung von Antú Romero Nunes am Thalia Theater, die aber ebenso vergnüglich ist und das Thema der Absurdität noch viel stärker in den Vordergrund rückt.
Du er en scherzkeks: In Hamburg begraben die Söhne von Kirk Douglas einen nordischen Helden
Auch in Hamburg weht der Wind von Norden – besser gesagt: Er weht im Norden. Tatsächlich gibt es ja Menschen, die glauben, Odysseus sei nicht im Mittelmeer, sondern in der Ostsee herumgeschippert (s. Felice Vinci, „Homer an der Ostsee“). Odysseus‘ Nachkommen sind bei Antú Romero Nunes unzweifelhaft Skandinavier. Der Running Gag in seiner Inszenierung ist ihre Sprache: eine Art Kunst-Skandinavisch, gemischt mit ein bisschen Deutsch. Immer verständlich, immer lustig. Die nicht mehr ganz so Jungen unter Ihnen wissen vom dänischen Koch aus der Muppet Show, wie das klingt: „Smørrebrød, smørrebrød, røm pøm pøm pøm.“ In Hamburg hat der Scherz aber melancholische Untertöne.
Denn Odysseus ist tot. Wir befinden uns in einer Trauerhalle. An der Rückwand hängt das Porträt des mutmaßlich Verstorbenen. Ab und zu leuchtet es in kitschigem Kirchenlicht auf: Es ist ein Bild von Kirk Douglas. Der hatte den Kriegshelden und Abenteurer 1954 in einem sagenhaften Monumentalschinken aus Hollywood verkörpert. Kirk Douglas ist ein knappes halbes Jahr vor der Premiere von Nunes‘ Inszenierung gestorben. Zweifellos: Odysseus ist tot.
Hinterlassen hat er zwei Söhne. Beide haben ihren Vater nie gekannt, und beide wissen nichts voneinander. Telemach, Sohn von Odysseus‘ rechtmäßiger Ehefrau Penelope, war kaum ein Jahr alt, als sein Vater in den Krieg zog. Telegonos ist das Produkt der einen oder anderen Liebesnacht von Odysseus mit der Zauberin Kirke. Mit ihr lebte der Vater während seiner Irrfahrt für die Dauer eines kurzen Jahres auf der Insel Aiaia zusammen. Telemach und Telegon sehen einander frappierend ähnlich. Der eine ist links-, der andere rechtsgescheitelt, und so stehen sie einander wie Spiegelbilder gegenüber. Noch eine weitere Ähnlichkeit ist auffällig: die mit Kirk Douglas. „Nur wenige Söhne sind wahrlich gleich ihrem Vater“, wird Homer im Programmzettel zitiert: „meistens sind sie besser oder schlechter.“ – Diese hier scheinen wahrlich gleich. Und doch beäugen sie einander voller Misstrauen.
Skandinavier sind sie beide. So wortkarg wie sie sind, stammen sie nicht aus Kopenhagen. Antakelig snakker de nordnorsk, aber wir verstehen eher Dänisch oder Schwedisch. Telemachos wartet in der Trauerhalle auf „de begravning av min papa.“ Telegonos behauptet das auch. Und beide behaupten, einen Bruder hätten sie nie gehabt. Der Kerl da oben, der Kirk Douglas, „hat meine Mutter gefickt“, sagt der eine lakonisch. Und der andere flippt aus: „Der hat meine Mutter gefickt.“ Man kommt der Wahrheit näher – und einander auch. Man testet, was der andere vom Vater weiß und versucht, dessen Identität zu verifizieren – mit zunehmendem Vertrauen zueinander. Gemeinsam geht man auf die Suche nach der Vergangenheit. Auch die ist absurd: Zum Totlachen waren doch die Geschichten von diesem Achilleus mit seinen blöden Sportfesten. Man erinnert sich an die Schweine, in die Kirke die Gefährten des Odysseus verwandelt hat, an die Ochsen des Sonnengottes Helios, die die Gefährten gegen alle Warnungen verspeist haben, an die Blendung des Zyklopen Polyphem.
Sind das wahre Geschichten? Oder ist es eher Seemannsgarn? Sind nicht schon die Erzählungen des Odysseus eher krauses Seemannsgarn denn wahrheitsgetreue Tatsachenberichte? Ein Märchen aus uralten Zeiten, das man heute nur noch als Absurdes Theater auf die Bühne bringen kann? Die Söhne haben Odysseus nie gekannt; sie ergehen sich in Andeutungen, ihre „Erinnerungen“ sind vage. Immerhin: die misstrauischen Jungs lachen schon miteinander, und mehr und mehr geht ihr wortkarger, absurder Erinnerungs-Dialog in ein gemeinsames Spiel über. Hin und her, scheinbar assoziativ wechselt das Spiel zwischen der Trauerhallen-Situation und einem andeutungsweisen Nachspiel von Situationen aus Odysseus‘ Abenteuern. Daraus resultieren wunderbare Stimmungsbrüche: Polyphem schreit noch ob seiner Blendung, doch schon machen die Schauspieler fröhliche Musik auf dem Sarg, und die Schweine grunzen dazu. Zaubertricks werden vorgeführt, Papas Geist entflieht in Form eines Luftballons aus dem – wie wir feststellen müssen, leichenlosen – Sarg. Aber er wird von den Söhnen umgehend zurückgeschossen. Mit mütterlicher Sorge bemerken sie: „Papa, du hadde fergetten den Helm.“
Aus dem Luftballon hinterlässt Papa einen Abschiedsbrief in Form einer Phallus-Zeichnung. Zeit, dass die Männer sich endgültig versöhnen und pubertäre Knaben-Spiele spielen: Sackwiegen zum Beispiel – eine Art Gewichtheben mit dem Hodensack. Episoden aus der Irrfahrt des Odysseus werden veralbert und slapstickartig nachgespielt. Die Ballettbeine der Herren Niehaus und Schröder wedeln eine grazile Schwanensee-Nummer aus der Sarg-Badewanne; der eine spielt Geige auf dem Bein des anderen. Die alberne, aber poetische Karikatur geht übergangslos in einen steinzeitlichen Ringkampf über – ein weiteres pubertäres Spiel, das nichts anderes ist als es Homer in seiner Odyssee beschreibt. Bei Lichte betrachtet, waren auch Odysseus und seine Gefährten nichts anderes als spätpubertäre, halbstarke Haudegen. Schauen Sie mal bei Kirk Douglas nach.
Ganz zart ist der Humor dieser Inszenierung, ganz leise – unterbrochen von dem einen oder anderen emotionalen Ausbruch. Später wird es temperamentvoller; manchmal gewinnt der Trash die Oberhand. Wir sehen Comedy vom Feinsten, zartbitter und poetisch, manchmal voller Sehnsüchte. Zwei wunderbare Clowns spielen absurdes Theater. Manchmal sind es Beckett-Clowns, manchmal Figuren von Pinter oder Jon Fosse, unbeholfene Helden aus Kaurismäki-Filmen oder auch einfach nur wunderbare Comedians. Johannes Hofmanns Musik untermalt den Witz und die Melancholie der Inszenierung mal mit ABBA, mal mit Ennio Morricone, mal mit schrillen Pop-Rhythmen und mal mit einer Schlagzeug-Musik, die den wenigen Requisiten des Abends abgeluchst wird. Letztlich aber bleibt das Ganze ein langer gespielter Gag auf höchstem Niveau. Dass das ausreicht, um zum Berliner Theatertreffen eingeladen zu werden, ist ein wenig überraschend – ein herausragender Theaterabend ist es allemal, zumal der ästhetische Bogen der Inszenierung einen Sinn ergibt: Mit ihrem pubertären Halbstarken-Zauber spielen Telemach und Telegon sich frei vom übermächtigen Schatten ihres Vaters. Das geschieht in Form einer fast okkult anmutenden Geisterbeschwörung: Der altersschwache Held taucht, verkörpert durch einen seiner Söhne und wohl nur in deren Phantasie, noch einmal auf. Er liegt auf der Intensivstation. Scheinbar geheilt, stolpert er jubelnd wieder in sein Boot, das nichts anderes ist als sein Sarg. Dort übergibt er den Söhnen seinen Helm zum Zeichen des Machtübergangs. Danach spielen die Söhne die albernen Episoden von Odysseus‘ Heldentaten – als Befreiungstaten. Und doch bleibt die Trauer um den verlorenen, nie gekannten Vater. Zärtlich, elegisch stimmen Niehaus und Schröder die alte ABBA-Hymne an: „Hej gamle man, kan do visa oss den väg …“
Den Weg weisen kann ihnen dieser Odysseus heute nicht mehr. Und so müssen sich Telemachos und Telegonos mit der Wasserpistole die Tränen in die Augen spritzen, damit sie weinen können. Dann zerstören sie mit Kettensägen den Sarg ihres Vaters. Der – wir erinnern uns – ist leer. Das Theater aber ist voll. So gehen sie mit den Kettensägen aufs Publikum los. Und das applaudiert frenetisch.