Johanna gegen den Rest der Schauspieler-Welt
Mit Schiller und Shakespeare kann man alles machen - es funktioniert eigentlich immer, behauptet der Schreiber dieser Zeilen manchmal in pauschaler Vereinfachung. Manchmal funktioniert es aber auch nicht. „Die aktuelle Inszenierung von Kristóf Szabó und dem F.A.C.E. Visual Performing Arts Ensemble bewegt sich an der Schnittstelle von Sprechtheater, Tanz, Installation und experimenteller Videokunst“, heißt es in der Ankündigung zu Friedrich Schillers Die Jungfrau von Orleans, die Szabó mit seinem Ensemble im Kölner Orangerie-Theater im Volksgarten zeigt. Der Liebhaber genreübergreifender Kunst ist elektrisiert: Da muss man hin. Und dann lernt er wieder einmal, dass pauschaler Enthusiasmus meist ebenso fehl am Platze ist wie pauschale Vereinfachung. Genreübergreifende Kunst stellt halt auch hohe Anforderungen: Wer Sprechtheater, Tanz, Installation und experimentelle Videokunst vereinen will, sollte auch Sprechtheater, Tanz, Installation und experimentelle Videokunst beherrschen. Bei der „Jungfrau von Orleans“ gelingen nur zwei der vier Komponenten.
„Die Jungfrau von Orleans – HIMMEL HÖLLE UFERMASCHINE“ nennt Szabó seine neue „TheaterTanz“-Produktion, die es in einer „Normalfassung“ und einer Langfassung“ gibt. In der Orangerie wurde die Langfassung mit einer Dauer von drei Stunden gezeigt. Der Zusatz zum Schiller-Titel weckt sofort Assoziationen an Heiner Müller („Hamletmaschine“, „Verkommenes Ufer“), aber da sind wir vermutlich auf dem falschen Dampfer. Dantes göttliche Himmel-Hölle-Fegefeuer-Komödie fanden wir trotz Engeln und Madonnenbildern, Mafiosi und per Gasmaske sich durch die Hölle des Krieges kämpfenden Darstellern auch nicht. Stattdessen hat das Visual Performing Arts Ensemble ein sehr eigenständiges, mal durchdacht und mal spontan wirkendes Werk erarbeitet, das in der Tat vor allem durch seine Video-Installationen überzeugt. Ivó Kovács‘ Video Art erstreckt sich auf den gesamten Raum, der zu Beginn der Vorstellung mit abstrakten, sich oft gegenläufig bewegenden gezackten Linien auf blauem Grund bespielt wird. Meist bleibt die Videokunst abstrakt, aber es gibt auch großartige Küstenlandschaften, die wohl die Wasser der Loire versinnbildlichen, Hochhäuser einer Großstadt, Metamorphosen (Schlangen - oder Raupen? - werden zu Schmetterlingen), ein Bild von Schlangen und Totenschädeln und vieles anderes mehr. Szabó und seine Truppe wurzeln im Neo-Surrealismus: Man muss nicht alle Metaphern der Video-Bilder verstehen, aber sie sind schon solo ein Kunstgenuss voller Magie und mit faszinierender ästhetischer Wirkung. Man könnte sie im Museum zeigen - allerdings würde man dort nicht drei Stunden vor ihnen verweilen, sondern die Dauer des Besuchs dem eigenen, individuellen Appetit auf Video-Häppchen anpassen.
Zum installativen Bereich muss man auch die Bühnen-Installation, die Requisiten und die Kostüme zählen, die kreativ und witzig gestaltet sind. Da spricht auch schon mal jemand in eine Art Schrubber-Mikrofon; am Rande der Installation entdecken wir eine Autotür, Steckenpferde, einen Union Jack, Bade-Utensilien, aus denen bald Sterntaler quillen und anderes mehr. Zu Beginn sitzt Johanna auf weißen Würfeln, gekleidet in Fetzen, die farblich eher der US-amerikanischen als der französischen Fahne ähneln. Ein Schrat mit roter Jacke und einem Stirnband, an dem mehrere Scheinwerfer befestigt sind, betritt die Bühne und sucht nach der inzwischen abgetretenen Johanna - es ist wohl ihr Vater in Domrémy. Die im Verlauf der Aufführung wechselnden Kostüme sind teilweise ausgesprochen witzig, verbleiben aber in vielen Fällen im Status sinnfreier Karnevalsklamotten.
Eine Kuh macht Muh, und irgendwann taucht Johanna wieder auf und liebkost auf sehr menschliche Art und Weise ein Schaf. Wie war das noch in der Schule: „Romantik ist, wenn die Viecher reden“ - da wird der „romantischen Tragödie“ des guten Schiller also Respekt erwiesen. Johanna bewegt sich zu Beginn wie ein fehlgesteuerter Roboter, und wir legen ein wenig die Stirn in Falten ob ihres schauspielerischen Gebarens. Aber wir werden Theresia Erfort noch schätzen lernen. Die Raupe wird zum Schmetterling, das Hirtenmädchen zur Schlachtenführerin und der fehlgesteuerte Roboter zur einzigen Darstellerin in dem sechsköpfigen Ensemble, die Ernsthaftigkeit und gutes schauspielerisches Potential an den Tag legt. Vor allem nach der Pause gelingt es Erfort, ihrer Johanna einen komplexen Charakter zu geben: voller Empathie und Einfühlsamkeit, voller Stolz, voller Reue - und voller Liebe. Eine wunderbare Liebes-Choreografie zwischen Johanna und Lionel (Maximilian von Mühlen) wird zum schauspielerischen/tänzerischen Höhepunkt der gesamten drei Stunden. Choreografie ist das Stichwort: War vor der Pause außer Johannas kurzer Roboter-Einlage kaum etwas von TheaterTANZ zu sehen, wird Kristóf Szabós Inszenierung in der kürzeren zweiten Hälfte phasenweise zu einer Art Tanztheater - und damit gewinnt sie an Qualität. Denn die Sprache steht im Hintergrund. Und sie ist der große, der ganz große Schwachpunkt dieser Inszenierung. In zweifacher Hinsicht:
„Das Text-Material von Schiller (wird) zu Splittern zerschlagen, in Bildern und Szenen die Geschichte neu aufgemacht“, hatte das F.A.C.E. Ensemble angekündigt. Man hat versucht, Themenblöcke zu finden: „Das Heilige und die Gewalt“, „Die Sehnsucht nach Engeln und die Besudelung des Reinen“, „Wahn und Vision“ und andere. Ohne Schwierigkeiten lassen sich diese Themenblöcke in der Aufführung identifizieren. Dazu hat man die Geschichte nicht nur neu montiert, sondern mit vielfältigen eigenen Texten angereichert. Was spannend klingt, ist aber leider völlig in die Hose gegangen: Die eigenen Texte sind von einer Banalität, die zu beschreiben sich aus Höflichkeit verbietet. Darstellerisch erscheint vieles, was das Team vermutlich als lustig, kreativ oder aufregend betrachtet, als blanker Unsinn, und in diesem Unsinn vermischt sich nun Schillers Pathos mit der Banalität der Eigentexte. Das alles wird dann vollkommen ironiefrei gesprochen.
„Don’t trust boys“, hat Theresia Erfort auf ihr Johanna-T-Shirt drucken lassen, und die Aufführung endet mit einem „The future is female.“ Das wünscht man sich zutiefst, denn neben der ansprechenden Performance von Theresia Erfort und einer nur für wenige Auftritte engagierten Ursula Wüsthof (als Erzbischof von Reims und schwarzer Ritter) stehen nahezu ausschließlich Boys auf der Bühne, und denen geht nicht nur jegliches Charisma ab, sondern sie haben eine erschreckend schlechte Sprechkultur. Der Rezensent schüttelt verständnislos den Kopf, wenn das nörgelnde Publikum mal wieder behauptet, früher hätten die Schauspieler alle besser gesprochen. Er denkt dann an den nuschelnden Ulrich Wildgruber, den wir alle geliebt haben. Aber diese Jungs hier bringen weder das Schillersche Pathos zum Klingen noch verjüngen sie mit ihren eigenen oft witzig, manchmal aggressiv gemeinten Texten die Aufführung. Und auch die Damen sind nicht alle zum Verlieben: Eine Sängerin darf zwei- oder dreimal live ihr Liedgut zum Besten geben und vor der schönen Video-Hochhaus-Kulisse „Oh Champs-Élysées“ singen. Dieter Bohlen hätte sie beim DSDS-Casting nach wenigen Sekunden rausgekegelt. Es ist zum Mäusemelken.
Damit wir das drei Stunden aushalten, wird die Aufführung zwischendurch auch mal zum Happening. Thomas Krutmann als Dunois und Cornelius Engemann als ein bewusst als Schlaffi dargestellter junger König Karl VII. lassen uns nach draußen führen in den an diesem Abend eiskalten Hof im Volksgarten. Dort, zwischen den Baracken des Orangerie-Gebäudes, gibt es eine lustige verbale Klopperei - wieder mit den allerbanalsten Texten, so als würden sie extemporiert von einem Ensemble, das das Improvisationstheater noch übt. Es ist zum Heulen und Zähneklappern - nicht nur wegen der Kälte. Aber das Graubrot, das ins Publikum gereicht wird, ist nicht nur für französische, sondern auch für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich lecker. Der Bäcker ist klasse.