Maries Schrei nach Berührung endet im Tod
„Er ist kein guter Mensch. Er hat keine Tugend.“ Nein, die des selbstgefälligen Hauptmanns (Robert Dölle) hat Georg Büchners Woyzeck sicher nicht. Schließlich ist er ein Gejagter. Gehetzt von seinen Fantastereien, in die Enge getrieben von selbsternannten Koryphäen. Dem Doktor (Jörg Ratjen), der ihn drei Monate lang nur Erbsen essen lässt, dem Tambormajor (Simon Kirsch), der ihm seine Marie ausspannt. Die Mutter seines Kindes, die ihren Woyzeck in mörderische Verzweiflung treibt, weil sie es schließlich gar mit allen treibt.
Im Depot 1 des Kölner Schauspiels ist diese Szene eine der beklemmendsten eines mitreißend-traurigen Abends, den die schwedische Regisseurin Therese Willstedt zu einem kleinen Wunder geraten lässt. Die Männer drängen Marie (Ines Marie Westernströer) gemeinsam an die Wand, schieben sie nach oben - bis sie, einem weiblichen Christus gleich, an die Wand genagelt scheint. Dazu ertönt, wie etliche Male zuvor und danach, eine derart das Gehör folternde Geräuschexplosion, dass die Intensität dieser und anderer Szenen kaum zu ertragen ist. Diese Welt hängt am Abgrund. Selbst geringste Erinnerungen an den Jahrmarkt, auf die es unser verzweifeltes Liebespaar bei Büchner getrieben hat und dort umtreibt, sind ausgemerzt. Keine Kneipe, kein Bier, kein Rummel.
Gleich zu Beginn werden Ton- und Bildfarbe uns Zuschauern in Auge und Ohr geradezu gefräst. Zwischen zwei im Winkel zueinander stehenden hohen Wänden eine Lücke. Aus ihr erstreckt sich, abwärts geneigt, ein Förderband bis zur Rampe. Auf ihm geht’s sowohl aufwärts als auch, und das häufiger, abwärts. Immer näher einer Katastrophe, in die das Band den Titelhelden schließlich unweigerlich entlässt. Ein grandioses Szenario, das der für Bühne und Licht verantwortliche Mårten K. Axelsson seiner Landsmännin entworfen hat.
„Rührt mich an!“, schreit Marie der geilen Männer-Riege entgegen. Immer wieder, bis die „Berührung“ an der Wand endet. Eine Einsame ist sie, nach Berührung und Zuneigung lechzend. Woyzeck selbst (Seán McDonagh), von Fieberbildern und Ängsten gejagt, nimmt sie wörtlich: Im Wahn erwürgt er sie. Doch ehe das geschieht, verzaubert eine stille, fast in Zeitlupe ablaufende Szene. Marie setzt sich zu ihm, küsst ihn, setzt sich auf seinen Schoß. In einer Stille, die wie ein Kontrapunkt dem Abend große Tiefe verleiht. Nur übertroffen durch den nach dem Mord ganz alleine auf seinem Lebens-Fließband wie versonnen verweilenden Woyzeck. Als träumte er von einem neuen Leben.
Ein mitreißender, ein spannender und großer kleiner Theater-Abend.