Schwarzes Tier Traurigkeit (1)
Vor Sonnenaufgang - das war doch dieses frühe Sozialdrama von Gerhart Hauptmann, mit dem der schlesische Möchtegern-Goethe seinen Durchbruch als Dramatiker feierte? Es spielt in Schlesien, doch es passt auch gut ins Ruhrgebiet: Bauernfamilie Krause ist zu Wohlstand gekommen, weil man auf ihrem Grund und Boden Kohle gefunden hat. Hoffmann, des alten Krauses Schwiegersohn, verscherbelt Grundstücke und wird zum erfolgreichen Geschäftsmann. Seine sozialistischen Ideale aus dem Studium hat er längst über Bord geworfen: Dass durch seine Geschäfte ein Rivale in den Selbstmord getrieben wird, ist für den materiellen Erfolg in Kauf zu nehmen. Bauer und Frau, vor allem aber Bauer und die schwangere Tochter Martha sind alkoholsüchtig, Bauers jüngste Tochter Helene ist dank einer Internats-Erziehung trocken geblieben, scheitert aber am Versuch eines richtigen Lebens im rundherum falschen. Hoffmanns Studienfreund Alfred Loth ist den Idealen aus der Studienzeit treu geblieben und auch ansonsten etwas weltfremd, und so bringt er das familiäre Drama zunächst richtig in Gang und später zu einem für Helene tödlichen Ende. Außerdem gibt es noch ein paar Hausangestellte sowie diverse komplexe Verschachtelungen inklusive eines veritablen Erpressungsversuchs und eine ebenfalls letale Vorgeschichte um Marthas erstes Kind. Die Uraufführung im Jahre 1889 gilt als die Geburtsstunde des naturalistischen Dramas und provozierte einen Theaterskandal: Aufhebung der Klassengrenzen und klassenkämpferische Ideen, derbe Sprache und Figuren, Alkoholismus, Vererbungslehre und Sozialkritik auf der Bühne - das war für manchen Berliner Großbürger zu viel des Guten. Ob das Stück noch in die heutige Zeit passt, mag man bezweifeln.
Palmetshofer holt Hauptmanns Drama ins Heute
Deshalb hat der österreichische Dramatiker Ewald Palmetshofer es so radikal überschrieben, dass es dem Auswahlgremium für das „Stücke“-Festival als völlige Neuschöpfung galt und der Autor für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert wurde. Hausangestellte und Nebenfiguren hat Palmetshofer beherzt gestrichen und die Handlung rund um den Kern der Familie zuzüglich Studienfreund Loth und Arzt Dr. Schimmelpfennig verdichtet. Statt eines Bauernhofs gibt es ein florierendes mittelständisches Unternehmen für Autokarosserie-Teile. Hoffmanns schwangere Frau Martha leidet nicht an Alkoholismus, sondern an Depressionen. Von dieser Krankheit scheinen in unterschiedlichem Ausmaß auch viele der übrigen Figuren bedroht. Helene wird überleben, ist etwas emanzipierter als bei Hauptmann, aber beruflich gescheitert und deshalb in die Familie zurückgekehrt. Hoffmann hat einen Vornamen spendiert bekommen und heißt jetzt Thomas, deckt den Mantel des Schweigens über ein paar dubiose Immobiliengeschäfte und ist für eine populistische Gruppierung in der Kommunalpolitik aktiv. Loth vertritt als Journalist auch bei Palmetshofer eher linke Thesen, ohne dabei allzu viel Überzeugungskraft zu entwickeln. Der sozial eingestellte Alfred muss zugestehen, dass der rechtspopulistische Thomas den Menschen die besseren, überzeugenderen Geschichten zu erzählen hat. Aber „diese gut erfundenen Geschichten spalten.“ Bei den Geschichten der Linken dagegen handelt es sich, wie Thomas argumentiert, um „moralische Selbsterbauungsgeschichten“, in denen sich die Leute nicht wiederfinden: „Und deshalb wählen die dann mich.“ - Wenn diese Argumentation so klar herausgearbeitet wird wie am Deutschen Theater Berlin, wird einem mulmig zumute: Sowohl Thomas als auch Alfred kann man bei ihren politischen Argumentationen folgen. Man weiß, die strukturelle Mehrheit in Deutschland ist rechts von der SPD - und ihr rechter Flügel spaltet. Aber von der Linken kommt allzu häufig ein moralisch verbrämter Gesinnungsterrorismus, der die Menschen weder bei ihren echten Sorgen abholt noch mitnimmt. Palmetshofer hat seinen Finger in eine real existierende Wunde gelegt.
Entschärfte Konflikte führen zur Boulevardisierung
Überraschenderweise hat der Autor das Derbe der Hauptmannschen Vorlage deutlich reduziert und die Konflikte eher entschärft als zugespitzt. Entschärft hat Palmetshofer auch die von ihm bekannte rhythmisierte Kunstsprache. Inversionen, Wiederholungen, abgebrochene Sätze und ein eigenwilliger Sprach-Rhythmus vermitteln zwar den Eindruck einer gewissen Künstlichkeit, aber diese kann von den Schauspielern bei Bedarf locker überspielt werden. So rücken die Figuren uns nahe und bieten Identifikationspotential auch für in der heutigen Gesellschaft verankerte Zuschauer. Die Gefahr, die dabei entsteht, liegt in einer gewissen Boulevardisierung vor allem der etwas langatmigen ersten Hälfte des Dramas.
Dieser Gefahr geht das Theater Basel in seiner Uraufführung durch Nora Schlocker stärker auf den Leim als Jette Steckels Berliner Nachspiel. Aus heutiger Sicht, so sagt Schlocker in der Mülheimer Publikumsdiskussion, wirken Hauptmanns Personen wie Karikaturen. Im Einklang mit dem Palmetshofer-Text habe man sich bemüht, sie näher an unsere Lebenswirklichkeit heranzuholen und eine mehr oder weniger typische Mittelstands-Familie darzustellen. Dabei habe man sich gefragt, wie viel Kunstform ein solcher Text dann noch verträgt bzw. wieviel Realismus notwendig sei. Die Berliner und die Baseler Aufführung haben darauf durchaus verschiedene Antworten gefunden.
In der Baseler Aufführung ist die Kunstsprache Palmetshofers vor der Pause so weit wie möglich glattgebügelt worden. Dass die Schauspieler schon in den vorderen Reihen des Parketts akustisch schwer zu verstehen sind, schreiben wir einem misslungenen Transfer auf die zu weitläufig wirkende Bühne und in den problematischen Saal der Mülheimer Stadthalle zu. Trotz phasenweise künstlicher Sprache und ironischer Hochtourigkeit, die den emotionalen Stress der Figuren beglaubigen soll, wirken die Menschen wie realistische Zeitgenossen. Dabei bleiben sie allerdings merkwürdig konturenlos. Zu allem Überfluss hat Ausstatterin Marie Roth sie in einen phantasielosen gelben, quaderförmigen Bühnenkasten verfrachtet, der die Spielfläche durch Hochziehen diverser Schiebetüren mal als Terrasse, mal als Wohnraum, mal als Küche definiert. Was herauskommt, ist vor der Pause ein boulevardeskes Wohnküchendrama, das vielleicht den Alltag mancher Zuschauer abbildet, aber ihn nicht wirklich interessiert.
Allerdings gibt es Ausnahmen: Erschütternd ist der emotionale Ausbruch von Cathrin Störmer als Annemarie Krause angesichts ihres zum wiederholten Mal sturzbetrunken von einem Besäufnis mit der Dorfjugend heimkehrenden Ehegatten. Auch die Reaktion ihres Egon (Steffen Höld) ist hart und illusionslos - endlich werden in dieser Szene echte Gefühle gezeigt, die eine klare Charakterzeichnung zulassen. Deutlicher als in Berlin äußert sich die Irritation des Journalisten Alfred (Simon Zagermann) über den politischen „Schwenk“ seines Studienfreundes Thomas; auch geht er zärtlicher auf die vorsichtigen Annäherungsversuche von Helene ein. Zagermann wirkt weniger schluffig und weniger depressiv als sein Pendant Alexander Simon vom Deutschen Theater, dadurch aber auch geheimnisloser und unspannender. Thiemo Strutzenberger gefällt als Provinzarzt Peter Schimmelpfennig, auch er einer aus der alten Studien-Combo von Thomas und Alfred. Zerstreut, wenig aufs Gespräch fokussiert, verunsichert und mit mangelndem Selbstwertgefühl, über dessen Grund sich trefflich spekulieren lässt, leidet auch er an offenbar an depressiven Schüben. Schon vor der Pause ahnen wir, dass dieser Doktor ein Unglücksrabe ist, und wir würden ihm die Entbindung unserer Partnerin nicht anvertrauen. Großartig drückt Strutzenberger im Nebel vager Sätze die Angst aus, erstmals beim Beginn des Lebens assistieren zu müssen. Dass es schiefgeht, ist unausweichlich.
Diese Unausweichlichkeit macht den kurzen zweiten Teil des Basler Abends doch noch zu einem Erlebnis. Die Handlung von Palmetshofers Drama spielt sich an einem einzigen Tag ab, und doch hat man in der Basler Inszenierung den Eindruck, nach der Pause habe sich die Welt verändert. Annemarie wirkt frustrierter, Helene bitterer, Thomas‘ Selbstbewusstsein fragil - und wenn Annemarie in der requisitenarmen Aufführung einen Kindersitz ins Haus schleppt, wirkt das wie ein Menetekel. Dr. Schimmelpfennig offenbart Alfred die Geschichte der Depression in der Familie Hoffmann, und geradezu poetisch blättert er sein pessimistisches Weltbild, sein zärtliches, aber trauriges Menschenbild auf: „atmen / leben / dann / gewesen sein / … im großen Bild / ist’s nur ein kurzer Augenblick /dann wieder weg / das kurze Lachen, Weinen / … / Kohlenstoff und Wasser, das verdunstet / … man müsst uns Menschen mit so viel Kraft und Druck verdichten / tonnenschwer bis wir wie Diamanten glänzen in der Sonne Licht / wir glänzen selber nicht“.
Da ist es endlich, das Schwarze Tier Traurigkeit, das im Deutschen Theater fast über der gesamten Inszenierung von Jette Steckel liegt. Schimmelpfennig nennt es den „großen schwarzen Hund“. Er sitzt nach seinen Worten auf Martha, hat aber wohl auch ihn selbst erfasst. Kurz darauf hören wir Marthas markerschütternden Schrei. Nach und nach betreten alle Figuren die Bühne und erstarren. Drei Sanitäter holen den Kindersarg ab. Der gelbe Bühnenkasten öffnet sich zu einem großen schwarzen Loch. Der Zuschauer starrt in voll aufgedrehte Scheinwerfer mit kaltem Licht. Es ist ein erschütterndes Ende einer langweiligen Inszenierung. Auch an der Kälte kann man sich verbrennen.
Jette Steckel inszeniert das Drama der Depression
Das un- und später totgeborene Kind der Martha Hoffmann stehe für die Hoffnung, betont Nora Schlocker. Diese Hoffnung stirbt am Ende, und zwar nicht nur für Martha. In der Inszenierung des Deutschen Theaters kann von Hoffnung schon von Anfang an nicht die Rede sein. Sowohl Martha als auch ihr Gatte Thomas (Felix Goeser) lehnen die Schwangerschaft ab. Keine Gelegenheit lässt die herbe, wenig sympathische Martha (schauspielerisch überzeugend: Franziska Machens) aus, um mit Härte, Zynismus und Selbstekel deutlich zu machen, wie unwillkommen ihr Kind ist. Sehen wir in Basel ein Familienstück, in dem durch einen unversehens von außen hineingetragenen politischen Konflikt sowie das unglückliche Agieren des Arztes die Welt aus den Fugen gerät, zeigt Jette Steckel am Deutschen Theater ein düsteres, zutiefst trauriges Drama über die neue Volkskrankheit Depression. Eine Depression, in der die Freude auf das Kind von der Angst vor der Vererbbarkeit der Krankheit überlagert wird.
Diese Depression äußert sich gleich zu Beginn in Sprachlosigkeit. Obwohl genügend Worte fallen: zunächst aus dem Off, dann weiß man nicht, ob die Schauspieler im Playback sprechen oder ob ihre Worte durch das Sound-Design verfremdet werden. Der Beginn wirkt wie ein luzider Alptraum, einsam, depressiv, zukunftspessimistisch. Die Drehbühne dreht sich: Die Figuren sind nicht vollständig selbstbestimmt, sondern teilweise fremden Kräften ausgeliefert. Deutlicher als in der Basler Inszenierung betrifft die Depression alle Figuren - vielleicht mit Ausnahme von Thomas, der das hohe Lied der Eliten singt und damit das Selbstwertgefühl der übrigen sicher nicht unterstützt. Familienpatriarch Egon (Michael Goldberg) ertränkt die Schwermut beim „Saufen mit der Unterschicht“ und treibt die mühsam ihren Pragmatismus behauptende Gattin Annemarie (Regine Zimmermann) in die Verzweiflung. Helene, die Maike Knirsch mit einer perfekten Balance zwischen Unbeholfenheit und Fremdheit einerseits und Sehnsucht nach Harmonie und Zärtlichkeit andererseits zu einem heimlichen Zentrum der Aufführung macht, hat einen unauffälligen Auftritt, der die ganze Trostlosigkeit der Familie Krause aufdeckt: Stumm quert sie die konfliktbeladene Szenerie von links nach rechts, und ihre ganze Unbehaustheit wird deutlich. Alfred, der als einziger noch an das Gute im Menschen glaubt, wird zur Projektionsfläche für ihre Liebessehnsucht.
Helene gehört die zärtlichste Szene des Abends: „Wenn man / hypothetisch / wenn man wen kennenlernen wollen würde möchte / wär das jetzt wahrscheinlich kein sehr günstiger Moment“ - da möchte man sie knuddeln. „ich mach die Sachen schöner als sie vorher sind / versuch ich jedenfalls“, sagt sie und hofft auf ein wenig Glück. Doch sie trifft auf einen Mann, der ebenso die Tendenz zur Schwermut hat - und der sie später sitzen lassen wird. Alfred antwortet: „ich mach das Gegenteil: / ich schau die Sachen so lang an, bis dass ich finde, was nicht schön dran ist.“ - „Warum verlässt der mutige Idealist Alfred am Ende diese Familie? Das finde ich schrecklich, und das war für mich der Anlass, diese Inszenierung zu machen“, hatte die Basler Regisseurin Nora Schlocker gesagt. In diesen Sätzen könnte sie die Antwort finden. Der mutige Idealist ist selbst labil - und muss sich schützen. Alexander Simon arbeitet das in Steckels Inszenierung überzeugend heraus.
Die politische Auseinandersetzung zwischen Alfred und Thomas wird am Deutschen Theater durch reflektierende und philosophierende Texte aus dem Off unterstützt. Der Zuschauer denkt nach über das „Auseinanderdriften“, die Polarisierung der Gesellschaft, die Alfred anspricht. Die Auseinandersetzung erhält Spannung, obwohl sie keineswegs mit radikalen Argumenten ausgetragen wird. Sowohl Alfred als auch Thomas bewegen sich innerhalb der Grenzen unseres demokratischen Systems. Palmetshofer rüttelt nicht durch Radikalität auf, sondern er regt zum Nachdenken an.
Die Drehbühne wird zur Metapher, Licht- und Sounddesign (die Krähen schreien, die Uhren ticken, kurze musikalische Einspielungen dräuen) geben der Inszenierung ab und zu etwas Künstliches. Das Mehr an Kunstform tut dem Stück gut. Es schärft die Sinne des Zuschauers für die emotionalen Konflikte der Figuren. Auch Steckels Inszenierung entgeht der Gefahr der Boulevardisierung nicht ganz, aber sie ist aus einem Guss: Zu Beginn ziehen Wolken auf, am Ende herrscht tiefe Düsternis. Palmetshofers Hauptmann-Überschreibung, so scheint es uns nach dem Besuch der Aufführung, ist ein großartiger, sensibler Text geworden. Auf diesen Gedanken wären wir nach der Basler Aufführung nicht gekommen. So endet der Inszenierungsvergleich mit dem Bekenntnis, dass auch ausgebuffte Theaterkritiker bei der Bewertung des Dramas nicht von der Aufführung abstrahieren können.