Übrigens …

Die Orestie im Bielefeld, Stadttheater

Wieviel Demokratie wollen wir?

Worauf die Jungs vom PRINZIP GONZO hinauswollen, erschließt sich erst nach der Pause. Dabei gibt es schon in der ersten Halbzeit genügend Hinweise - Versatzstücke aus der klassischen Oreste des Aischylos und erläuternde und interpretierende Zusammenfassungen des griechischen Mythenstoffs -, dass das Regie-Team am Theater Bielefeld den Zustand der Demokratie auch in unserer Gesellschaft hinterfragen will. Nach einer kurzen, für das Verständnis des Plots hilfreichen Vorgeschichte (Agamemnon nimmt Iphigenie mit, „um sie zu schlachten“, wie Gattin Klytaimestra es ausdrückt, um sie den Göttern für gute Winde beim Troja-Feldzug zu opfern, wie wir wissen), spricht der Wächter die Worte, die schon in Bochum den Auftakt zur Orestie-Inszenierung bildeten (siehe hier): „Ich bitte um eine Änderung.“ Fast leitmotivisch steht dieser Satz am Anfang der Inszenierung. Leitmotivisch könnte er auch am Ende stehen - für die Message, die Tim Tonndorf und Robert Hartmann dem Publikum an diesem mehr als drei Stunden langen Theaterabend eintrichtern möchten: Auch in unserer Demokratie muss sich das eine oder andere ändern. Bis dass wir das begriffen haben, rumpelt es allerdings ein paarmal in der Aufführung.

Bei Aischylos geht es dem Wächter bei seinem Wunsch nach Änderung zunächst einmal um die Leuchtfeuer, die vom Ende des Trojanischen Krieges künden sollen. Klytämestra, die die Wächter-Worte in Bielefeld wiederholt, bekniet ihren Gatten, die gemeinsame Tochter zu verschonen, und ruft die Götter um Hilfe an. „Ich bitte die Götter um eine Änderung“: Wir wissen, dass das mit viel Mord und Totschlag vonstattengehen wird. Der Atridenfluch wird noch ein paarmal erbarmungslos zuschlagen, bevor die Götter dann tatsächlich einschreiten - mit dem ersten demokratischen Prozess der Dramengeschichte.

Die - also die Geschichte dieses Dramas - wird uns immer mal wieder von aus Ihren Rollen aussteigenden Schauspielern referiert. Meist ist es Chorführer Guido Wachter, der diese pädagogisch und didaktisch verdienstvolle Aufgabe übernimmt. Mit triefender Ironie - so scheint es jedenfalls, wenn Wachter nach dem herzerfrischend erbarmungslosen Beginn des Abends kund und zu wissen tut: „Das ist die Geburt der Demokratie.“ Und mit einem gehörigen Stück Geschichts-Pessimismus, wenn Wachter bald darauf Heiner Müllers Langgedicht „Ajax zum Beispiel“ zitiert: „Europa Der Stier ist geschlachtet das Fleisch fault auf der Zunge …“.  Von fauler Demokratie wollen Tonndorf und Hartmann, die beiden Herren, die sich hinter dem Regiekollektiv PRINZIP GONZO verbergen, erzählen.

Wie bereits erwähnt: Bis das gelingt, rumpelt es ein wenig. Das qualitativ ausgesprochen heterogen wirkende Bielefelder Ensemble ist nämlich zunächst einmal gehalten, die Geschichte der Orestie nachvollziehbar und Stück für Stück zu erzählen. Es benutzt dazu die durchaus spannende und griffige, aber auch anspruchsvolle Übersetzung von Peter Stein aus dem Jahre 1980, allerdings werden einige Akteure von der Wucht des Stoffes und der Sprache an den Rand der Überforderung getrieben.

Guido Wachter gehört nicht zu diesen Überforderten. Schmunzelnd verfolgen wir seine Reflexionen über die Orestie und Gustav Schwab und das Theater, über die griechischen Götter und Helden und ihre heutige Bedeutung in der Produktwerbung („Babypille fauler Zauber / Ajax hält das Becken sauber“ hat Heiner Müller seine zwischen antiken Mythen, Zahnarzt-Metaphern und Einar Schleef mäandernde Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte und Gegenwart überschrieben). Überraschenderweise ist es der Chorführer und Vertreter der Bürgerschaft, der einige Wochen nach dem Besuch der Aufführung als die Hauptfigur des Abends in Erinnerung bleibt. Er ist Kommentator und Mediator, und Letzteres nicht nur zwischen den Konfliktparteien auf der Bühne, sondern auch zwischen den Sprachstilen sowie zwischen dem komplexen Dramengeschehen und dem Publikum. Zunehmend greift er ins Geschehen ein; er fährt mutige verbale Attacken gegen Aigisthos, den Oliver Baierl als zornige Ameise gibt. Wachter kann gleichermaßen Pathos und Ironie, und ihm gelingt es am überzeugendsten, dem Klang von Peter Steins eleganter Sprache nachzuspüren.

Ungewöhnlich große Konzentration legt die Aufführung auf die Kassandra-Figur. Henriette Nagel gibt sie als Verzweifelte, Abhängige; wie an der Hundeleine kraucht sie auf die Bühne. Aber der Chorführer scheint fasziniert von dieser Seherin, der ja eigentlich gemäß des auf ihr lastenden Fluchs des Apollon niemand glaubt. Er, das Volk, sieht den Sinn in ihren Prophezeiungen, vermag aber die Herrschenden ebenso wenig zu überzeugen. Wenn Carmen Priego als Klytaimestra Kassandra hinter der Bühne meuchelt, zeigen sich die Stärken der Inszenierung und die Schwächen des Ensembles deutlich. Priego ist dem dämonischen Text sprachlich nicht gewachsen, aber die Bilder, die sie im Verein mit der Regie findet, vermitteln die Ungeheuerlichkeit des Geschehens überzeugend.

Man geht ein wenig unzufrieden in die Pause, denn man erkennt zwar ein Regiekonzept, aber auch dessen unzureichende Umsetzung. Wenn anschließend Elektra als kleines, unbeholfenes Mädchen und Orest als Bielefelder Gesamtschul-Jüngelchen auftreten, fürchtet man das Schlimmste. Doch dann folgt die Überraschung: Die Aufführung entwickelt Kraft und politische Schärfe. Gauland-Parolen erschrecken: „Wir werden sie jagen“, wir werden „zurückholen unser Land für uns“. Die Wut der jungen Generation wird ausgestellt, und sie scheint nicht besser als die der alten. „Es schwankt der Boden des Rechts“, konstatiert der Chorführer. Und darum dreht es sich nun in der nächsten temperamentvollen Stunde: um drohende Anarchie, um politische Polarisierung, um das richtige Maß zwischen Konsens und politischer Auseinandersetzung. Im Programmheft findet sich dazu ein Aufsatz der belgischen Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe zur zunehmenden Entpolitisierung in der „Postdemokratie“. Das Drängen der großen politischen Parteien zum Konsens und die Verwischung der Grenzen zwischen Links und Rechts führe zu einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit demokratischer Institutionen, argumentiert sie. In der Aufführung erleben wir zunächst einmal den rabiaten Kampf um die Deutungshoheit, und wenn Orest in einen Kampf verwickelt wird, der leicht zu seinem Tode führen könnte, heißt es: „So sind sie, die neuen Götter. Immer setzen sie Macht über Recht.“ Wer denkt da nicht an den hartnäckig von den Linken behaupteten Sieg eines unsozialen Neoliberalismus in unserer Gesellschaft, den auch Chantal Mouffe konstatieren zu können glaubt.

Dionysos wartet noch mit ein paar frauenfeindlichen Sprüchen auf (schon vor der Pause hatte die Inszenierung nebenbei mit der #MeToo-Debatte gespielt); Athene taucht als Richterin aus dem Theaterhimmel auf dem Balkon auf; aus dem Publikum werden Schöffen bestimmt (leider wird die Idee des Geschworenengerichts nicht durchgezogen), ein Mehr an direkter Demokratie wird gefordert. Die Aufführung bekommt Aktualität und Brisanz; sie fängt den politisch interessierten Zuschauer ein, der sich sowohl intellektuell als auch emotional von der Debatte betroffen fühlt. Zumal weder Gonzo noch Götter ein Patent-Rezept verkünden: Man ahnt, wohin sie sich sehnen, aber immer wieder finden sie zurück zur ironischen Distanz, die Guido Wachter zu Beginn häufig einnahm. Am praktischen Beispiel demonstriert das Theater Bielefeld, dass Politikverdrossenheit keine Chance hat, wenn erst einmal wieder eine stärkere Polarisierung der Parteien herbeigeführt wird. Ja, die Inszenierung „bittet um eine Änderung“. Aber der Rezensent hat auch die Gefahren einer Radikalisierung erkannt...