Übrigens …

Die Räuber im Theater Krefeld

Räuberbande und Schillerkommando

Schiller reloaded. Rechts hängen an großen kreuzförmigen Kleiderhaken die historischen Kostüme der Schiller-Figuren. Nach hinten verjüngt sich die Bühne. Dort ist ein altmodisches Bild zu erkennen: eine nicht minder historisierend gemalte Innenansicht des Saals aus dem Schloss derer von Moor. In diesem Gemälde sitzt auf einem purpurnen Stuhl der alte Moor. Erst wenn die Handlung von Schillers Die Räuber im Schloss spielt und der historische Bilderrahmen nach vorn an die Rampe gefahren wird, erkennen wir, dass einige Einrichtungsgegenstände nicht gemalt, sondern veritable dreidimensionale Requisiten sind und dass es sich bei Maximilian Graf von Moor um einen realen Schauspieler handelt. Das Zimmer wird zur Bühne auf der Bühne, und die wirkt wie eine Puppenstube. Sie scheint die bedrohte, untergehende Welt der Aristokratie zu versinnbildlichen. Auf der Liliput-Bühne wird große Kunst mit spöttischer Ironie vorgeführt. Überm Kamin hängt ein zuckersüßes Kinderbild von Lieblings-Sohn Karl. Joachim Henschke, der alte Moor, spielt eine Figur aus uralten Zeiten; seine Spielweise ist altmodisch und seine Figur überfordert. Henschke trägt ein historisches Kostüm - immer.

Auch Henning Kallweit, Moors wenig geliebter und intriganter Sohn Franz, befleißigt sich zu Beginn der Inszenierung von Schauspieldirektor Matthias Gehrt einer eher altmodischen Spielweise. Aber Kallweit versieht sein Spiel mit ironischer Distanz. Und der Schauspieler trägt - ebenso wie alle übrigen Akteure dieses Abends - nicht immer historisierende Klamotten. Die Jungs (und das eine Mädel) laufen des Öfteren in grauen Schlabberhosen und grauen Pullundern herum. Dann sind sie - nein: nicht die Räuber, sondern das Schillerkommando. Matthias Gehrt hat eine zusätzliche Ebene in das Drama eingeführt: Räuber, neidischer Denunziant, überforderte Aristokratie - und politisierendes Kommando. Räuber von heute. Dass ihre Gattungsbezeichnung von fern an die „Kommandos“ der RAF erinnert, ist kein Zufall. Denn ein Teil der eingefügten Texte stammt aus einer Publikation des selbst ernannten „Unsichtbaren Komitees“, einer intelligenten, in Frankreich eine Weile unter Terrorverdacht stehenden linksextremen Gruppe, die sich aus Menschen aus gutem Hause zusammensetzt, die den Aufstand gegen das Establishment und den revolutionären Bruch mit dem gegenwärtigen System predigen. Ironisch sind diese Jungs nicht… - Weiß der Teufel, wie Matthias Gehrt auf diese Truppe gekommen ist, denn in Zeiten der Konzentration auf islamistischen Terror werden die Revolutionsversuche linker westeuropäischer Kreise in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Aber recht hat der Krefelder Regisseur: Das „Unsichtbare Komitee“ hat verblüffende Ähnlichkeiten mit der Räuberbande des wohlmeinenden Karl Moor. Und ein paar Kernsätze der Unsichtbaren haben ein Mehr an Sichtbarkeit durchaus verdient: „Das Gegenteil von Demokratie ist nicht Diktatur, sondern Wahrheit“ heißt es da (und wird in der Krefelder Aufführung mit chorischer Hingabe zitiert). Oder: „Der Fehler der Ideologie liegt darin, das Denken vom Herzen abzuschirmen.“ - Kommt einem gar nicht so links vor, oder? Ist jedenfalls erstaunlich hellsichtig.

Franz dagegen findet Argumente für sein rücksichtsloses, radikal ichbezogenes Verhalten im Hinblick auf Liebe und Machtübernahme in Schillers „Philosophischen Schriften“ und in der extremistischen Sexualmoral von Marquis de Sades „Philosophie im Boudoir“. Amalia wiederum schöpft Kraft für ihren kaum erfolgversprechenden Widerstand gegen die Zudringlichkeiten von Franz und die wider alle Erfolgswahrscheinlichkeiten aufrecht erhaltene Liebe zu dem totgeglaubten Karl in der hehren Liebestheorie des marxistischen französischen Philosophen Alain Badiou findet.

Allein die Analyse der eindrucksvoll durchdachten Textfassung von Gehrts Inszenierung wäre also ein spannendes Unterfangen für eine Bachelor-Arbeit in Germanistik, Romanistik oder Politikwissenschaften und würde den Rahmen dieser Rezension sprengen. Und doch kommt die Aufführung keineswegs verkopft, sondern kraftvoll, emotional und bisweilen sogar humorvoll daher. In taktischer Hinsicht hat das Intrigenspiel von Franz verblüffende Ähnlichkeiten mit dem von Jago in Mario Holetzecks Neusser Othello-Inszenierung (siehe Rezension hier), allerdings wirkt das Spiel von Henning Kallweit - wenngleich ebenso kalt und berechnend - ironischer. Wie der 1,80 m große, schlanke Kallweit es schafft, in den Auftaktszenen wie ein kleines mediokres Würstchen und ein komplexbeladener Gernegroß zu wirken, ist ein schauspielerisches Zauberkunststückchen. Nach dem vermeintlichen Tod des alten Moor sitzt er verloren in dem viel zu großen Sessel des Vaters - schon optisch erkennen wir, dass er der Rolle des Familienoberhauptes nicht gewachsen ist. Doch der Mann kann durchaus Ausstrahlung und Charisma entwickeln: Wenn sich die Gefährlichkeit und Besessenheit des Franz ungebremst Bahn bricht, stellt Kallweit auch das eindrucksvoll unter Beweis.

Aus der Räuberbande ragt Adrian Linkes Spiegelberg als der kraftvollste Spieler heraus. Als Mitglied des Schillerkommandos gibt er den intellektuellen Counterpart von Philipp Sommers Karl. Doch wir wissen: Spiegelberg, der seinen Neid auf den umsichtig agierenden Räuberhauptmann Karl nicht beherrschen kann, wird sich ins Unrecht setzen: Wenn er protzend von Raub und Vergewaltigung im Kloster erzählt, droht die Räuberbande ihren moralischen Gründungsimpetus zu verlieren. Die übrigen Räuber berichten stolz von Brandschatzungen und der Tötung Unschuldiger - Karl ist entsetzt, obwohl wir diese Berichte in anderen Inszenierungen schon eindrucksvoller in Szene gesetzt gesehen haben. Leider ist die schauspielerische Qualität des Krefelder Ensembles an diesem Abend von heterogener Qualität. Geradezu peinlich wirkt Joachim Henschke als seinem Gefängnis entsteigender, vermeintlich toter und tatsächlich totenblasser Vater Moor, der durch die Szene torkelt wie ein kurz vor der Demenz stehender traumatisierter Geist. Die heutzutage schwierige, weil letzten Endes doch unemanzipierte Rolle der Amalia ist auch für Vera Maria Schmidt eine Herausforderung, der sie nur teilweise gewachsen ist. Seltsamerweise wirkt sie ausgerechnet bei ihren Emanzipationsversuchen blass und unerotisch. Berührend dagegen gelingt die Unterhaltung zwischen ihr und dem inkognito im Schloss auftauchenden Karl.

Ein Riff ist so gut wie das andere, um daran zu zerschellen, denkt man, wenn nach Vater Moors Geister-Auftritt urplötzlich das Interesse an der Inszenierung erlahmt. Doch die Aufführung erholt sich schnell: Nebel wallt; das Schloss geht unter. Die Ruinen der Aristokratie ragen noch zur Hälfte aus dem Unterboden - zu retten ist die feudale Gesellschaftsordnung nicht mehr. „Spiel mir das Lied vom Tod“: Das musikalische Leitmotiv, zuvor manches Mal ironisch eingesetzt, erhält jetzt ein gewisses Pathos. Wie Westernhelden stehen Franz, Spiegelberg, Roller auf der Bühne - bewegungslos und tot. Die Kleiderständer tragen keine Kostüme mehr: Sie sind jetzt nur noch Kreuze. Karl tötet Amalia - Tod auf Verlangen. „Ich habe einen Engel geschlachtet“, ruft er, „seid ihr nun zufrieden?“   

Wir sind’s. Wir haben eine kraftvolle Aufführung gesehen - mit einer intellektuell spannenden, durchdachten Textfassung, mit einleuchtenden, gegen Ende aufwühlenden Bühnenbild-Ideen und, nun ja, mit einem Ensemble mit Höhen und Tiefen. Aber wer Schiller liebt: hingehen!