Wieviel Wahrheit ist dem Menschen zumutbar?
Drei Tage später in der Kunsthalle Bonn: Die Retrospektive der Performance-Künstlerin Marina Abramovic schlägt von Minute zu Minute mehr in den Bann. Was die Kuratoren über manche Werke der Künstlerin sagen, gilt auch für diese Ausstellung: Es gelingt den Besuchern, „die eigene Präsenz im Raum zu spüren und… genügend Empfindsamkeit (zu entwickeln), um die kollektive Energie wahrzunehmen“ - vor allem die Energie der nicht anwesenden Künstlerin. Und dann: „The Onion“: Abramovic vertilgt eine große Zwiebel, und die Tränen laufen ihr über das Gesicht. Währenddessen beklagt sie sich: „Ich bin es leid, auf Flugreisen dauernd umzusteigen. Ich habe es satt, in Wartezimmern, an Bushaltestellen, auf Bahnhöfen und Flughäfen zu warten. Es hängt mir zum Hals heraus, endlos lange Passkontrollen über mich ergehen zu lassen. Ich bin es leid, unter Zeitdruck im Shopping-Center einkaufen zu gehen. …ich bin es leid, mit einem Glas Mineralwasser herumzustehen und so zu tun, als wäre ich an einer Unterhaltung interessiert. Ich bin meine Migräneanfälle leid, einsame Hotelzimmer…, Ferngespräche, grottenschlechte Fernsehfilme. Ich bin es leid, mich immer wieder in den falschen Mann zu verlieben. Ich habe es satt, mich für meine zu große Nase, meinen zu dicken Arsch und den Krieg in Jugoslawien zu schämen. … Ich will alt werden, richtig alt, so dass nichts mehr eine Rolle spielt… Ich will nicht mehr wollen.“
In Mülheim hatten wir drei Tage zuvor einen ähnlichen Monolog gehört - und doch ganz anders. „Ich habe diese Paare satt“, wütete Fräulein Agnes in der Stadthalle: „Diese Paare, die sich ständig an einen ranschmeißen, weil sie ihre Zweisamkeit nicht aushalten. Ich habe diese Singles satt… mit ihrem verlogenen Geschwätz von Freiheit. Ich hab diese Künstler satt…, die ihre müden kleinen Affären… aufblasen zu welthaltigen Seelendramen und damit die Atmosphäre zumüllen. Ich habe diese Geliebten satt, die sich über die Ehefrauen ihrer Lover lustig machen und für das Bessere, Intensivere halten. Ich habe diese fremdgehenden, verlogenen, pseudogewissensverbissenen Ehemänner satt. Ich habe diese nichtfremdgehenden, verlogenen, pseudonichtuntervögelten Ehemänner satt. Ich habe diese gemütlichen Rotweintrinker satt mit ihren gemütlichen Rotweinnasen.“ Und so fort, weitere 34 Sätze lang Vegetarier und Fleischfresser, Kokser und Abstinenzler und vor allem immer wieder die weltfremde dekadente Künstlerwelt mit virtuosen Sprachspielen aufspießend. Zu letzterer gehört die Bloggerin und Kulturkritikerin Agnes selbst.
Natürlich hat Fräulein Agnes nichts mit Marina Abramovic und ihren Grenzen auslotenden existenziellen Performances gemein, auch wenn die Hassreden der beiden sich inhaltlich nahekommen. Abramovic spricht von sich selbst, Fräulein Agnes von anderen. Abramovic hasst ihr Selbstmitleid, Fräulein Agnes alle anderen. Aber immerhin: Agnes spricht die Wahrheit. Immer, ungeschminkt und gnadenlos ehrlich. „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, zitiert sie Ingeborg Bachmann. Höflichkeit ist keine Tugend für sie, Harmonie und Rücksichtnahme auch nicht. Agnes ähnelt darin dem Alceste aus Molières Komödie Der Menschenfeind. Rebekka Kricheldorf hat sich in ihrer Molière-Überschreibung weiter vom Original entfernt als Ewald Palmetshofer in seiner wenige Tage zuvor ebenfalls beim Mülheimer „Stücke“-Festival vorgestellten Hauptmann-Neufassung Vor Sonnenaufgang, aber wir erkennen sie wieder: Alceste - und auch dessen Herzensfrau Célimène. Denn auch Fräulein Agnes hat einen jungen Liebhaber, dem gegenüber sie sich entgegen ihrer sonstigen Überzeugung ungewöhnlich nachsichtig gibt. Mit etwas gutem Willen findet man auch die übrigen Figuren Molières in Kricheldorfs neuem Stück wieder.
Kricheldorf hat noch ein anderes Referenzstück, zu dem sie allerdings einen Kontrapunkt setzt. Es ist ihr eigenes: Vor drei Jahren zeigte das Deutsche Theater Göttingen bei den Mülheimer „Stücken“ ihren Homo Empathicus (siehe hier). Das inzwischen vielfach nachgespielte Stück spielte in einer Welt ohne Konflikte, in der man überkorrekt miteinander umging, Geschlechterdifferenzen durch die abgefahrensten neutralen Formulierungen und politisch überkorrektes Verhalten vollständig beseitigte und in der auf Ablehnung und Zurückweisung mit Dank und Verständnis reagiert wurde. Homo Empathicus war eine vergnügliche, unterhaltsame Groteske mit einer eigenwilligen, bisweilen sogar überraschend poetischen Atmosphäre. Beschrieben wurde keine Utopie, sondern eine Dystopie. Formuliert wurde auch ein starkes Stück Gesellschaftskritik. Es war eine Welt, die hier entworfen wurde, und nicht das Drama einer spezifischen Figur. Deswegen wurde das Stück allen skeptischen Prognosen zum Trotz ein Erfolg.
In ihrem neuen Stück entwirft die Autorin keine Welt, sondern sie erzählt eine Geschichte anhand von Individuen. Fräulein Agnes geht daher ein wenig von der Originalität ab, die Homo Empathicus auszeichnete, obwohl Agnes erneut als exemplarische Kunstfigur für eine gesellschaftliche Fragestellung steht. Die Figurenkonstellation ist übersichtlicher; es werden Konflikte diskutiert, es gibt klar voneinander unterscheidbare Figuren: die Wutbürgerin Agnes, die enttäuschte Freundin Fanny, Agnes‘ jungen Liebhaber Sascha, ihren hart und scheinbar lieblos angepackten Sohn, zwei Kunst-Groupies und die seltsame Philosophen-Figur Elias, die Florian Donath in Erich Sidlers Inszenierung in knapper Tunika zu einer Art abgedrehtem Mini-Sokrates umdeutet.
„Ich hab die ganze Menschheit satt“, endet Rebecca Klingenbergs phantastische Anfangs-Suada. Dabei hat Agnes in ihrer großbürgerlichen Altbauwohnung eine ganze Menge schmarotzendes Personal aufgenommen, das sich zwar mit ihren Launen abfinden muss, aber großzügig ausgehalten wird. Aber diese müssen eben auch selbst eine Menge aushalten, und so schafft es Agnes an einem einzigen Wochenende, sie alle (mit Ausnahme des nichtsdestoweniger eingeschnappten, von der Straße aufgelesenen Elias) aus dem Haus zu treiben. Mit ihren brillant formulierten, aber verletzenden Bemerkungen, den höchst amüsanten Spitzen gegen die heiße Luft im Kunstbetrieb liegt Agnes fast immer richtig. Aber Kricheldorfs Untersuchungsgegenstand heißt: Wieviel Wahrheit verträgt der Mensch? Wann kippt Höflichkeit in Verlogenheit, wann Verlogenheit in Speichelleckerei - und wann Ehrlichkeit in Unhöflichkeit und Taktlosigkeit? Agnes sei „empathiegestört“, wirft ihr Sohn der durchaus geliebten Mutter vor, bevor er das Haus verlässt. Allzu wenig Empathie aber führt zu Selbstzerstörung und Einsamkeit. Vor solchen Menschen ergreift das Umfeld früher oder später die Flucht - aus Selbstschutz. Florian Eppinger bringt es auf den Punkt: Jede Form von Absolutheit führt in die Katastrophe.
Angelika Fornell gibt Agnes‘ Freundin Fanny. „Noch achtet man dich“, warnt sie Agnes vor den Folgen ihrer Kommunikationsstrategie. „Man achtet deine Meinung, nicht jedoch dein Verhalten.“ Für die Figur des Philosophen Elias findet Fornell in der Publikumsdiskussion eine einleuchtende Parallele in der klassischen Literatur. Für sie sei Elias so etwas wie der Narr bei Shakespeare. Auch er sagt die Wahrheit, aber er tut es auf sozialverträgliche Weise. Er verpackt seine Wahrheiten in schöne, manchmal auch skurrile Geschichten und Gedichte. Irgendwann einmal schreibt er „Samuraischwert“ auf eine Wand: Er sammelt schöne Wörter. „Pampelmuse“ gehört dazu. Oder „Liebesblödigkeit“. Und auch „Gaga“. Es sind solche Szenen, die wirklich interessieren in der flott gespielten, aber in der Mitte trotzdem nicht recht vom Fleck kommenden Inszenierung von Erich Sidler: Szenen, die „gaga“ sind. Menschen wie Elias, die gaga sind: Florian Donath und Rebecca Klingenberg ragen daher aus dem eher durchschnittlichen Schauspieler-Ensemble heraus.
Inszenatorisch kann die Aufführung durchaus überzeugen. Sidler und seine Kostümbildnerin Bettina Latscha finden schräge Bilder. Wie schon bei Homo Empathicus wagt Kricheldorf ein soziales Experiment, das nur durch darstellerische Übertreibung zur Wirkung gebracht werden kann. Der Choreograph Valentí Rocamora i Torà, der schon die Vorgänger-Inszenierung veredelt hatte, verstärkt diese Übertreibungen. Er hat großartige menschliche Skulpturen gebaut; seine Schauspieler überzeugen mehr durch ihr herausragendes körperliches Spiel und ihre verfremdenden Bewegungen als durch ihre Sprache. Schon dem anfänglichen Hassmonolog der Agnes möchte der Zuschauer sich vollen Herzens anschließen, geht ihm doch eine verfremdete Disko-Szene voraus, in der die acht Schauspielerinnen und Schauspieler kommunikationslos, ein wenig roboterhaft und mit leerem Ausdruck auf der Stelle tanzen. Agnes bemüht sich später einmal sogar, in den Tanz einzufallen - unbeholfen und vergeblich: Ihre Welt ist eine andere - eine anspruchsvollere, wie sie meint. Es ist leider auch eine lebensuntüchtigere. Vielleicht sollten wir einfach mal für eine Nacht unseren Anspruch an der Disko-Garderobe abgeben. Und ab und zu der Nachbarin Komplimente machen…