In der Schule
Heute, im vorletzten Stück des Theaterfestivals, wird mal Schule gespielt. Wir, das Publikum, dürfen Schüler sein. Vor uns am Bühnenrand baut sich der Lehrer Rupp (Daniel Hoevels) auf: mit hellbeiger Anzughose und dunkelbeigem Rolli bedient er perfekt ein Studienrats-Klischee. (Da hat jemand die 68er verpasst!) Beschwörend und übertrieben gestenreich belehrt er uns, spricht bedeutungsschwanger von Verantwortungsethik und Opfer-Verhöhnung, weiß alles ganz genau und bringt sich schließlich selbst ins Spiel: Und nur, damit ihr’s wisst: Ich bin ein Opfer. Es klingelt wie in der wirklichen Schule und für morgen kündigt Herr Rupp Brecht an, in der Tat: wir fühlen uns schon jetzt wie in einem Brechtschen Lehrstück. Dann hebt sich der Vorhang und auf einem an Seilen hängenden Podest mit Teakholz-Umrandung sind ALLE anderen Figuren (so die Regieanweisung) versammelt, reden gleichzeitig hektisch auf Rupp ein. Wir vernehmen ein einziges Stimmengewirr, doch Rupp antwortet jedem Einzelnen auf seine Frage. War diese so humorig wirkende Szene etwa schon der Anfang seines Opfer-Ganges? Seiner erst später erkennbaren Zerrüttung? Des hereinbrechenden Chaos? Wer hörte hier was? Wer hört hier „falsch“?
Vorerst scheint es jedoch für Rupp aufwärts zu gehen: Schütz, der Chef (bieder seriös, doch leicht zu verunsichern: Helmut Mooshammer), spricht ihm Lob und Anerkennung aus und bietet ihm die Nachfolge als Schulleiter an. Seine Frau Kathleen (Anja Schneider) eröffnet ihm ihre Schwangerschaft. Doch über all diesen guten Nachrichten liegt eine fröstelnde Fremdheit, jeder stellt seine Statements aus, man findet nicht zueinander und statt vertrauter Gesprächsatmosphäre herrscht schleichende Kälte. Und immer mal wieder diese Missverständnisse: was sagte Schütz soeben? Da kippt etwas: die Worte, die Wahrnehmung, die Menschen. Ronald Rupp eine Kippfigur? So nennt Autor Thomas Melle die Figuren, deren Wahrnehmungen aus der eigenen Kontrolle geraten. Doch vorerst bleibt es ein Geheimnis um ihn, nur ein Gerücht, von dem aber vermutlich alle wissen. Und diese ALLE sind Kollegen, Eltern und Schüler, die die Regisseurin Brit Barkowiak wie Kunstfiguren auf einem Spielbrett agieren lässt: die verklemmte, frustrierte Alte Jungfer in beiger Häkelweste, der fette Naturwissenschaftler, der die Wahrheit gepachtet glaubt und doch nur Gift verspritzt, der leicht spinnerte, schicke Akademiker-Vater des Problemschülers, der alle zu erpressen sucht (locker-egoman Michael Goldberg) und nicht zuletzt die nymphomane, geltungssüchtige alleinerziehende Mutter, der die Regisseurin einen sexistischen Part zuweist, der im Text nicht vorgesehen und der auch nicht wirklich sinngebend ist. Alle diese Stereotypen werden in Stellung gebracht gegen den Problemfall. Sei es aus Neid, Eigensucht, verletzter Eitelkeit, Selbstüberschätzung oder Selbstschutz - mag sein auch tatsächlich durchwirkt mit einem Hauch von pädagogischer Verantwortung -, stehen sie alle (will heißen: die ganze missgünstige und selbstsüchtige Gesellschaft) bereit, das OPFER zu zerstören. Denn das ist das eigentliche Thema dieses Stückes: das Ausgeliefert-Sein eines kranken Menschen an die verständnislose Umwelt. Das tabuisierte Anders-Sein als Makel, der ausgrenzt, einsperrt, zu einem Leben hinter Glaswänden zwingt. (Diese ernste Metapher der Isolation, ist durch das simpel-symbolische Aquarium auf der sonst leeren Bühne albern verbildlicht.) Ganz zu Anfang schon stellt die scheinheilige Profiteurin der Krise (schön blaustrümpfig Judith Hofmann) die Frage nach der Henne und dem Ei: Was ist es, das die Krankheit zum Ausbruch bringt, die verheimlichte Wahrheit ihrer schlummernden Existenz oder die Arroganz des Umfeldes?
So wie die Persönlichkeit kippt, so kippt auch die Sprache: zunächst sind es nur kaum bemerkte Aussetzer, dann einzelne, groteske Verzerrungen, die sich einschleichen, und die Melle hörbar macht. So kippt der Satz: „Mein Sohn ist ein kritischer Geist, das ist alles.“ für Rupp zu: „ Hohn. Wenn du hektisch scheisst, was du knallst“. Entgleisungen, die trotz kurzer Irritationen zu überspielen sind, doch dann - und mehr und mehr - flüchtet sich Rupp in die Versform, krallt sich daran fest als Quasirealität bis er schlussendlich nur noch der Sonettform vertraut und die alltäglichsten Banalitäten zu Sonetten formt. Die Sprache als poetisch-psychotische Dimension. Dabei geraten die Szenen ins grotesk-comichafte und die Katastrophe wird verstohlen belacht. Da kann auch der Zuschauer sich bei den Ambivalent-Schuldigen wiederfinden.
Am Ende kippt die gesamte Spielfläche nach vorn: alle Figuren sind Kippfiguren. Jeder auf seine Art, jeder mit der eigenen Macke. Doch der wirklich Gezeichnete verschwindet aus der Gesellschaft, seine Krankheit hat einen Namen: Bipolare Störung. Er wird von seiner Frau in Paris aus sicherer Entfernung als Clochard wiedererkannt. Ein unnötig kitschig-realistischer Schluss.
Melle liefert ein interessantes Lehrstück ab, in dem er bewusst von außen auf den Protagonisten schaut, nachdem er sich in seinem autobiographischen, in Ich-Form erzählten Roman Die Welt im Rücken 2016 mit der Innenwelt des Erkrankten auseinander setzte. Vielleicht ist es die gewählte Perspektive, die auch uns als Zuschauer unerwartet distanziert auf dieses Schicksal schauen lässt und manchen Lacher an der falschen Stelle provoziert. Die gleich zu Beginn so klischeehaft unsensibel gezeichnete Figur des Rupp schafft es nicht, Empathie zu wecken. Der gesellschaftliche und menschliche Verfall dieses Menschen lässt den Zuschauer so gar nicht ergriffen zurück. Der nivellierenden Regie, die dicht am Text bleibt, gelingt es nicht, die Fallhöhe dieses Schicksals zu zeigen.
In der anschließenden Diskussion betonte Thomas Melle, dass er kein authentisches Krankheitsbild gezeichnet habe, dass es ihm vielmehr um die Ambivalenz der Schuld gehe.
Wir sind Kippfiguren. Der Hintergrund wird zum Vordergrund. Und umgekehrt. So Melle.