Im Fahrstuhl der Menschheitsgeschichte
NOTAUSGANG steht an der grauen Eisentür, durch die wir eingelassen werden, um über einen langen, dämmrigen Flur, vorbei an rohen Betonwänden, über eine steile, schmale Treppe hinunter in einen unwirtlichen Raum zu gelangen. Auf dunklen, überhohen Wänden lesen wir mit weißer Schulkreide geschriebene Sätze. Figuren lösen sich aus der Menge und ergänzen weitere Texte, Zitate, die uns einstimmen können, die wir später hören werden. Von Hölle und Schmerzen ist da zu lesen. Aber auch von Hoffnung.
Wir befinden uns in den leerstehenden Requisiten-Lagerräumen des Düsseldorfer Schauspielhauses, das noch für zwei Jahre eine nüchterne Baustelle sein wird.
Aber wohin führt uns unsere Phantasie? Sind wir schon in der Vorhölle?
Nein, Dantes Göttliche Komödie beginnt auf der Erde, in einem finsteren Wald, in den sich sein Theater-Ich, der Dichter in der Lebensmitte, verirrte. Und so steht dieser DANTE mitten unter uns und beginnt sein Klagelied: „Der Wald ist wild und unwegsam. Grauen packt mich. Auf einmal springt ein hungriger Löwe auf mich zu mit hocherhobenem Kopf, so stürmisch, dass die Erde bebt.“ Und dann umschleicht sie uns, die gefährliche Löwin. Mit rotem Pulli und üppiger Lockenpracht nähert sie sich dem ängstlichen, verschüchterten von Entsetzen gepackten Dichter (Kilian Land). Doch Rettung naht. Plötzlich, wie aus dem Nichts steht eine menschliche Gestalt vor ihm: Vergil, der ein Mensch zwar nicht mehr ist, aber einmal einer war. Er stellt sich vor als der Dichter der Äneas (Was ihn als Kenner der Unterwelt ausweist!) und bietet dem verstörten Dante an, ihn zu seiner Großen -Liebe, der früh verstorbenen Beatrice zu führen, die ihn im Paradies sehnsüchtig erwarte. Noch zögert Dante, doch da erscheint in der Düsseldorfer Version die lange Verstorbene höchst persönlich im finsteren Wald, um den melancholischen Zauderer zu ermutigen. Und siehe da: aus der Löwin ist – ganz unverkleidet - die strahlende Geliebte geworden (in allen Rollen höchst charmant, ergreifend: Lieke Hoppe). Natürlich ist Dante jetzt bereit, die Reise durch Hölle und Fegefeuer anzutreten, um zu ihr ins Paradies zu gelangen.
Allgemeiner Aufbruch
In langer Prozession ziehen die über siebzig Menschen durch schmale Gänge, über enge Treppenstufen bei grünem Dämmerlicht hinab in die neun Kreise der Hölle, das Inferno, das als riesiger Trichter im Erdinneren gedacht ist und später von Vergil an einer großen Karte erläutert werden wird (virtuos: Andreas Grothgar). Leise Musik klingt uns entgegen und über dem profanen Hinweisschild Großes Magazin lesen wir jetzt in Leuchtschrift: „Hier geht es zur Stadt der Schmerzen“. Mit Seufzern und psalmodierenden Gesängen empfangen uns die Seelen der Ewig-Unerlösten, der Weisen und Helden des Altertums. Nur die Propheten des Alten Testamentes – so erklärt uns Vergil - wurden von Jesus hier herausgeholt, alle anderen Ungetauften müssen ausharren. Doch gar so schlimm scheint es nicht zu sein, denn hier gibt es wahrhaftig ein Glas Sekt für jeden.
Doch dann, im fünften Kreis, beginnt die wahre Hölle. Unter Wehrufen und dem Schrei: “Steigt herab“, finden wir uns zwischen offenen Särgen unter sich (im Video) herabwälzenden glühenden Lavamassen wieder, umgeben von unheimlichen Gestalten, Geschrei und allenthalben der Drohung: “people must be punished“. Megären greifen Vergil an, der sich ihrer in einer furiosen Kampfeinlage mit dem Feuerlöscher erwehrt. Geschichten und Tragödien der Gestrandeten werden erzählt und manche bis zum Exzess szenisch erspielt. Odysseus mit der Hemdaufschrift „hell“ berichtet von hochoben zu Meeresrauschen von seiner Irrfahrt, um sich dann wieder aufs Totenbett zurück zu legen (Rainer Philippi in dieser und in anderen Seelen-Rollen geschmeidig, schelmisch, flexibel). Das alles untermalt und dramatisiert von variierender Livemusik (eindrucksvoll: Karsten Riedel).
Im neunten Kreis, der kalten Hölle, in der die eingefrorenen Körper der Schwerstverbrecher unter Eis liegen sollen, hören wir zu kalten Klavierakkorden die grausige Geschichte des Grafen Ugolino, der einst gezwungen wurde, seine eigenen Kinder zu verspeisen und sehen zu, wie er sich jetzt an dem Bischof, der ihn dazu zwang, grausam rächt: im Halbdunkel zieht er dem Peiniger, der im Ornat über eine Stange geworfen mit entblößtem Rücken vor ihm hängt, die Haut ab und frisst sie. Eine ekelerregende Szene.
Dann - unter dem überdimensionalen Schattenbild des gefallenen Engels Luzifer - sind wir auf dem Grund des imaginären Höllentrichters angekommen. Der Spuk geht unter dröhnenden Klängen zu Ende.
Durch ein riesiges Tor, das über drei Etagen zu reichen scheint, höher als jede Kirchentür, betreten wir einen ebenso hohen Gang. Von oben ertönen sphärische Musik und Gesang. Wir sind am Fuß des Läuterungsberges angekommen und schweben langsam den verführerischen Klängen entgegen. Die Halle ist im wirklichen Leben nichts als ein Lastenaufzug. Oben angekommen, empfängt uns das grandiose Bild eines scheinbar auf einer Gitterwand Gekreuzigten. Doch psalmodierende Gesäge kündigen Erlösung an. Wir sind im Purgatorium, dem Fegefeuer gelandet, das Dante als umgekehrten Trichter mit sieben Terrassen erdachte. Und auf der siebten Stufe erwartet uns höchst überraschend ein großer, gedeckter Tisch. Bei Brot, Wein und Wasser nehmen wir hier als SEELEN teil an einem Konsilium über Liebe und Verantwortung, über das Wesen des Menschen und die Beschaffenheit der Seele – ein höchst interessanter Exkurs ins Denken des beginnenden 14.Jahrhunderts. Noch sitzt Vergil mit am Tisch, doch den nächsten Schritt ins IRDISCHE PARADIES darf er, der Ungetaufte, nicht mehr mittun.
Vergil, der schier allwissende, grandiose Führer, bleibt zurück, während wir dem geläuterten Dante ins strahlende Morgenlicht folgen dürfen. Da erwartet uns die ersehnte Beatrice im irdischen Paradies. Wir sind auf der Bühne des Kleinen Hauses angekommen. Nehmen Platz in den ganz normalen Sitzreihen, doch alles wirkt nicht eben paradiesisch, vielmehr verstaubt, wie eine Baustelle, die es im wirklichen Leben ja ist.
Es genügt, mit einem nassen Lappen über den staubigen Bühnenboden zu gehen, um den Fluss Lethe als dunkle Spur anzudeuten. Mit einem Guss Lethe-Wasser wird Dante schließlich nicht nur von allen Sünden, sondern auch von der Erinnerung daran rein gewaschen. Ein romanhaftes Happy-End, auch wenn Dante der Geliebten vorerst noch nicht ins himmlische Paradies folgen darf.
Einundzwanzig Jahre lang, bis kurz vor seinem Tod, schrieb Dante an diesen einhundert Gesängen in kunstvoller Versform, die er übrigens schlicht „Commedia“ nannte. Göttlich wurde sie erst post mortem. Die Düsseldorfer Inszenierung legt die vereinfachende Prosa-Übersetzung des Kirchenmusikers Kilian Nauhaus ihrem Aufführungstext zugrunde, die allerdings in der dritten Person verfasst ist. Dramaturgin Janine Ortiz und Regisseur Johannes Schütz führen den Text konsequenter weise in die Dantische Ich-Form zurück und kürzen vor allem viele historische Debatten.
Die Straffung tut der Dramatisierung gut: Dem großartigen Bühnenbildner Johannes Schütz gelingt es, ohne opulente Bebilderung , mit spartanisch einfacher Ausstattung , in radikal puren Räumen diese vertikale literarische Wanderung hinab in die die Unterwelten und anschließend hinauf bis unmittelbar vors himmlische Paradies körperlich erfahrbar zu machen, indem er uns ganz konkret tief hinab in die Katakomben des Theaters schickt und dann durch Zauberhand wieder in höchste Höhen hebt. Die wenigen, ungemein starken Bilder und sparsamen Videoanimationen, die kargen, verfremdeten Installationen und ungewöhnlichen Schalleffekte lassen Raum sowohl für unmittelbare Teilhabe als auch für distanziertes Betrachten gegenüber dem Denken und Werten der literarischen Dichter-Figur in einer Zeit, in der religiöse wie mythologische Kräfte noch unmittelbar einwirkten auf menschliches Dasein.