paradies spielen (abendland. ein abgesang) im Mülheim, Theater an der Ruhr

Mit Zorn und Pathos gegen die Eiswüste der Zivilisation

Stockdunkel der Raum. Schritte. Ein Streichholz flammt zischend auf, erleuchtet das Gesicht eines jungen Mannes: „Ich trau mich nicht hinein“, beginnt er seinen Monolog. Ein lyrisches, ergreifendes Gedicht. Es erzählt von Angst und Trauer, vom Vater zwischen Leben und Tod, von dessen Suizid und von der „hautpartikelwüste“ auf diesem „körper verbrannt auf stufe drei die haut verbrannt auf stufe drei“. Immer wieder dieser Satz, immer wieder ein aufflammendes Zündholz und dann wieder und wieder der Aufschrei: „ich schrei zurück“. Schließlich ist es nicht nur das Krankenzimmer, das Sterbezimmer, vor dem er sich fürchtet, vor dem er zurückschreckt, es ist sein eigenes Leben: „will nicht mehr sprechen will überhaupt nie wieder sprechen jeder satz verbrannt auf stufe drei“ und „trau mich nicht ins haus trau mich nicht zurück… kann nur mehr weitergehen nie wieder mehr zurück“. Und dann, am Ende dieses bewegenden Klageliedes, tauchen Motive der nächsten Episode auf. „es bebt das krankenhaus der boden zittert bebt vibriert“. Er verlässt das Krankenhaus, hört das Donnern der Züge und folgt dem „gleisbett“ der Züge, die das Zentrum der nächsten Geschichte sein werden.

Dieser lyrische, ganz persönliche Abgesang, der gelesen wie gehört ein einziges Poem ist, (eindrucksvoll dargeboten von David Müller), wird zum Ende des Stücks geweitet zum mythischen wie schuldhaften Abgesang: düstere Bilder tauchen auf, wenn vom „viehwaggon europa“ und der „rampe“ die Rede ist. Und dann das resignierende Fazit: „prometheus die schützende hand des vaters hängt fest für immer im metallgestrüpp“.

Doch zwischen dieses Versepos schiebt Thomas Köck Szenen ganz anderer Atmosphäre. Während soeben unser Protagonist noch gedanklich neben den Gleisen lief und sich fragte: „schneit es oder ascht es“ (zweifellos eine Assoziation zu black snow falls, einem Motto der Klimaforschung, das dem Stück vorausgestellt ist), erscheinen jetzt höchst skurrile Figuren, die - obwohl auf der Bühne brav nebeneinander gestellt - ganz offensichtlich in einem dahinrasenden Zug sitzen, genauer: in einem ICE. Gesprochen: I-ZE-E, geschrieben allerdings auch als englisch ice = Eis zu lesen, zumal der Text durchgängig kleingeschrieben und ganz ohne Satzzeichen ist. In der Tat sind Feuer und Eis - neben Zug und Gleisen - zwei weitere wichtige Metaphern für das Stück, das hinter allen Bildern einen Aufschrei gegen Klima- und Kapitalismuskatastrophe birgt. Und so ist auch die urkomische Gruppe, die sich da auf der Bühne aufgereiht hat, nichts anderes als Teil der comichafte Bebilderung der Theorie des Paul Virilios vom „Rasenden Stillstand“, zu der Thomas Köck im Programmheft ausführlich Stellung nimmt. Denn hinter der relativ statischen Gruppe aus Comic-Tier-Menschen sehen wir auf einer riesigen Projektionswand das Video einer dahinrasenden Eisenbahnstrecke. Zunächst gesäumt von Büschen und Feldern, dann aber von Schneebergen und schließlich - immer rasender - von bedrohlichen Eisblöcken. Doch die Gruppe der stillstehenden Plüschfiguren bleibt vorerst ungerührt: ein Faultierpärchen in Bayern-Trachten-Look, er mit kurzer Lederhose; eine kesse, permanenttelefonierende Füchsin, die ihren überlangen Schwanz als Handy, in den kurzen Pausen aber auch als geile Männerphantasie einsetzt; ein rosarotes Bunny mit langen Schlappohren und Kindergesicht und ein katzenhaftes, zänkisches Liebespärchen.

Während des gesamten Stückes schafft der Live-Musiker Anton Bermann an seinem Keyboard eine rasante Geräusch- und Sound-Kulisse. Zwischen Schlagerschnulzen und Vivaldi lässt er es dröhnen, rauschen, brausen, prusten und mit zunehmender Geschwindigkeit bedrohlich vibrieren.

Schließlich erhebt er als Kondukteur seine Stimme zu einem langen, leicht pathetischen Monolog, während vorne in der Gruppe allerlei gruppendynamische Prozesse ablaufen. Inzwischen gerät der Zug aus der Kontrolle, verselbständigt sich, rast durch die Bahnhöfe, ist nicht mehr zu stoppen und selbst die Notbremse versagt. Ungebremst rast er durch die zur Eiswüste erstarrten Reste der Zivilisation. In der Gruppe bricht Panik aus und die Comic-Figuren mimen jetzt sowohl die außer sich geratenen Fahrgäste, als auch den kommentierenden Chor. Der Text ist dabei zwar Namen zugeordnet, doch wechselt er zwischen der ersten und dritten Person hin und her, sodass es sich nicht wirklich um Dialoge, sondern weitgehend um einen aufgeteilten Fließtext handelt.

Da haben die Zuschauer längst verstanden, dass wir uns hier „IM EWIGEN ICE DER SPÄTMODERNE“ befinden, so Köck im Interview. Der Aufführung gelänge in diesem Teil ein markantes, überzeugendes Bild der von Köck angeprangerten hysterischen Überhitzung und leerdrehenden Beschleunigung des kapitalistischen Systems und seiner Folgen, wenn nicht bis zum Schluss das Personal in diesen albernen Plüschkostümen agieren müsste. Längst hat das tierische Gehabe zwischen Behäbigkeit und Gezappel, das für eine Spaß-Episode taugte, seinen Sinn verloren. Es stört.

Nach der Aufregung tritt Ruhe ein. Ein ganz neuer Erzählstrang wird in diesem dritten Teil aufgetan. Zwei Chinesen, ein Schneider (Sven Prietz) und eine Wanderarbeiterin (Katharina Hauter) erscheinen als riesiges schwarz-weißes Video auf der Projektionsfläche. Sie beklagen ihr Schicksal als „freie geister“ ohne Papiere in Europa. Einst aufgebrochen in „henan zhengzhoudort wo smogwolken am himmel hängen und lithiumionenakkus durch facharbeiterhände wandern“, leben sie jetzt in Prato, in der Toskana, wiederum als Arbeitssklaven, als zwei von an die dreißigtausend illegalen Chinesen. Viele von ihnen sind Klimaflüchtlinge, weil die Erderwärmung ihre Böden zu Hause austrocknen lässt. Und plötzlich, während die beiden von bröckelnden, berstenden Wänden in ihrer Unterkunft berichten, zerreißt die papierene Projektionsfläche. Was wir sahen, war nicht ein Video, sondern ein Schattenspiel direkt hinter der Wand. Ein bizarres Bild entsteht: unten, im aufgerissenen Teil, ein dreidimensionales Bild, die beiden Figuren in weißen Gewändern live, oben nach wie vor ihre Schatten: die Schattenexistenz zweier lebender Menschen. (Auch hierzu ein Informationstext im Programmheft.)

So unterschiedlich die drei Erzählstränge, so differenziert auch die ästhetischen Zugänge - dieser dritte Teil erscheint als Textfläche mit stark berichtendem Charakter. Doch allen gemeinsam ist eine hohe Musikalität, die Rhythmisierung der Sprache, gleichgültig, ob als Sprachkaskade oder als Gedankensplitter. Thomas Köck tritt auch als Musiker auf, vielleicht scheint das im Text durch.

Es war das letzte der sieben im Rahmen der Mülheimer Theatertage gezeigten Stücke und der Applaus war verhalten. Dennoch erhielt es am späten Abend völlig zu Recht den Mülheimer Dramatiker-Preis.