Der größte König, den wir jemals hatten
William Shakespeare is back, und er hat nicht nur ein neues Königsdrama geschrieben, sondern eines, das in die Zukunft blickt. Elisabeth II. ist tot, und Charles, diese merkwürdige Melange aus snobistischem Sonderling und grünem Weltverbesserer, steht vor der Übernahme der Königswürde. Ein Ruck geht durch Charles‘ Körper, und etwas widerwillig konstatiert er: „Ich muss dem Mob ins Auge sehen!“ Dass ihm das Protokoll egal ist, überrascht wohl nur den Premierminister, dass er aber, „gesalbt von Gott, nicht Mensch“, auf seiner politischen Autonomie besteht und sich weigert, eine vom demokratisch gewählten Parlament beschlossene Gesetzesvorlage zu unterzeichnen, führt im ganzen Land zu Unruhe, zumal Charles bei anhaltendem Widerstand aus der Politik kurzerhand das Parlament auflöst. Zu Hause laufen die Dinge auch eher holprig: William und Kate geben sich zwar königlich-staatsmännisch, doch wird William, gelenkt von seiner überehrgeizigen und intriganten Ehefrau, letzten Endes gegen seinen Vater putschen und sich selbst die Krone aufsetzen. Der psychisch ziemlich verkorkste Harry präsentiert der Royal Family dagegen ein sozialistisch angehauchtes Working Class Girl als Dame seines Herzens. Dass Jessica dem Klassenfeind zugeneigt ist und im Übermut einer früheren Liebesbeziehung ein Nackt-Foto im Internet gepostet hat, kann Charles dank seiner Abneigung gegen das demokratische politische Establishment samt dessen stiff underlip tolerieren; dass Jess keine Lust auf Prinzessin hat, schockiert ihn. Doch er gibt Harry grünes Licht zu tun, was er will. Denn seine Gedanken sind auf ganz andere Ziele gerichtet: sich als König nicht marginalisieren zu lassen, sondern politisch eingreifen zu dürfen, wenn er das für erforderlich hält.
Der neue Shakespeare heißt Mike Bartlett, und er ist ein im Vereinigten Königreich gefeierter und erfolgsverwöhnter Playwright und Autor von Fernsehspielen. Ein Shakespeare ist er nicht, auch wenn er seine Figuren in King Charles III in Blankversen reden lässt und shakespearegerechte, teilweise den Meister milde ironisierende Reime für die einzelnen Szenen-Enden erfunden hat (Charles: „Wenn ich nicht nur so schlechte Nerven hätte! – Ich nehme nachher eine Schlaftablette“). Doch Bartlett hat nicht nur ein fairly well-made play mit überraschenden Einblicken in die Intrigenlage der Königsfamilie geschrieben, sondern er hat auch die politischen und gesellschaftlichen Konflikte sehr geschickt arrangiert. Ganz eindeutig ist es nämlich nicht, auf wessen Seite man sich schlagen soll, wenn Charles gleich die erste Gesetzesvorlage, die ihm vorgelegt wird, nicht unterzeichnen will: Denn es handelt sich um ein Gesetz zur Einschränkung der Pressefreiheit. Die Abstimmung im Publikum, ob man dem König ein Mitspracherecht in politischen Angelegenheiten zugestehen soll, geht in Stefan Ottenis Inszenierung mit der bremer shakespeare company an dem vom Rezensenten besuchten Abend im Neusser Globe Theater daher fifty-fifty aus. Man fühlt sich regelrecht unwohl bei der Abstimmung: Charles ist ín diesem Einzelfall ja auf dem richtigen Weg. Grundsätzlich aber wäre die Einmischung der Monarchie in politische Entscheidungsprozesse ein Rückschritt für die Demokratie. Dass ein Parlamentarier in Ottenis Inszenierung für diesen Fall „türkische Verhältnisse“ auf das Land zukommen sieht, entbehrt nicht einer gewissen maliziösen Ironie: Mit „türkische Verhältnisse“ ist auch die Abschaffung der Pressefreiheit treffend beschrieben. Zudem ist der König der einzige, der trotz seines elitären Bewusstseins nicht nur von dem Willen zur Machterhaltung, sondern von politischen Motiven angetrieben scheint. In der politischen Diskussion setzt er auf balance of power, auf ein Gleichgewicht zwischen links und rechts. Dass er sich nach und nach in der Diskussion mit den Vertretern der Politik ebenso wie in der Diskussion mit seiner Familie verrennt, steht auf einem anderen Blatt: Am Ende führt der Konflikt aufgrund seines diplomatisch ungeschickten Verhaltens und seiner Verstocktheit in die Eskalation und das Land in schwere, möglicherweise auch gewalttätige Auseinandersetzungen. Was aber wäre der richtige Weg gewesen?
Peter Lüchinger gibt den Charles III mit stoischer Unbeugsamkeit und einer Mischung aus Unbeholfenheit und elitärem Gehabe. Er trifft die reale Figur des Prince Charles damit recht gut, und den anfänglich überraschenden Schweizer Akzent des Schauspielers lernen wir mehr und mehr als Marotte lieben. Gestützt wird er ausschließlich von Gattin Camilla, deren mangelndes diplomatisches Geschick innerhalb der Familie nicht gerade zur Integration beiträgt. In ihren anderen Rollen neigt Svea Auerbach manchmal allzu sehr zum Chargieren. Markus Seuss und Petra-Janina Schulz als William und Kate geben lange Zeit das bekannte Glamour-Paar. William ist in Konventionen gefangen, aber er bewegt sich halbwegs elegant auf dem Parkett; Kate verfügt über großen Charme. Doch nach der Pause offenbart sie ihre wahre Natur: Zur Rettung von Status und Macht der eigenen Familie ist sie zu manch einer faulen Tat bereit; politische Inhalte sind ihr dagegen gleichgültig. Überzeugend und in der Darstellung seiner Figur differenziert agiert Tim Lee als Harry, der vom Anpassungsdruck und Zwang zur Konvention im Königshaus psychisch deformiert ist. Er läuft durchs Leben wie die blaue Solar Queen mit der solarbetriebenen Winkehand, die in jedem besseren Nippes-Laden zu kaufen ist: Auch wenn die Sonne für ihn nicht mehr scheint, macht er mit debilem Lächeln den Dauerwinker. Theresa Roses Jessica wird zu seinem Working Class Hero. Sie vermag ihn aus seinem psychischen und physischen Gefängnis zu befreien, doch wird Harry am Ende nicht stark genug sein, sich dem Fluch seiner Geburt zu entziehen: Das Wort Familienbande hat eben einen Beigeschmack von Wahrheit, wie schon Karl Kraus wusste. Hat Harry wenigstens Ansätze von politischem Bewusstsein? Nada. Dazu fehlt ihm wohl die Reife, und wenn er über sein Leben im Palast stöhnt, das sei „sowas von anders als da draußen in Afghanistan“, hat das weniger mit dem Wunsch nach politisch verantwortlichem Handeln zu tun als mit der Möglichkeit, im Kriegseinsatz auszubrechen aus den Mauern seines Gefängnisses.
Auch der Premierminister und der Oppositionsführer haben in erster Linie den Machterhalt bzw. den Erhalt ihrer Ämter im Sinn. Eine nette Pointe setzt Stefan Otteni mit seinem Besetzungskonzept: Erik Rossbander ist als Premierminister von der Labour Party der noble, souveräne, zurückhaltende Exekutor der Macht, ein Bürokrat mit Potential fürs House of Lords, während Michael Meyer den konservativen Oppositionsführer eher als flippigen Chaoten gibt, dabei seine Rolle aber auch verzappelt. Oppositionsführer Stevens ist ein mediokrer Wendehals; das in hochtourigem Wahlkampfmodus geführte Streitgespräch zwischen Charles und dem Premierminister bekommt dagegen zu Recht Szenenapplaus.
Mike Bartlett hat sein unterhaltsames, für Inselbewohner aus Albion wohl noch anspielungsreicheres Stück nicht nur mit elisabethanisch anmutenden Blankversen, sondern mit vielfältigen Verweisen auf Shakespeares bekannteste Stücke angereichert. Die ihren Gatten zum Verrat, notfalls wohl auch zum Mord anstachelnde Kate trägt unverwechselbare Züge der Lady Macbeth. Nicht der Geist von Hamlets Vater, aber der von Williams Mutter (und von Charles‘ erster Ehefrau) schwebt ein paar Mal über die Bühne: Diana prophezeit dem gegen die Zensur kämpfenden Charles, „der größte König, den wir jemals hatten“ werden zu können; auch Elisabeth II. und diverse historische Britenkönige treten als Geister auf. Ein Döner-Verkäufer ist der typische Shakespeare-Narr und beschreibt im Gespräch mit Harry den beklagenswerten Zustand des Vereinigten Königreiches in Zeiten von Brexit und schwacher, kaum noch legitimierter Regierung. Charles aber endet wie König Lear: einsam, verstockt, in übertragenem Sinne blind für die Notwendigkeiten der Staatsraison. Alle Kinder wenden sich von ihm ab, selbst Harry, der zwar nicht dem Königshaus, aber doch seinem Vater lange zugeneigt war. Seine Jessica, die einzige, die das Herz am rechten (weil linken) Fleck hatte, wird kurzerhand abserviert. Shakespeares Königsdramen sind, so unterhaltsam sie auch sein mögen, eben keine Komödien.