Panikherz im Recklinghausen Ruhrfestspiele

Im tiefen Tal der Suchtprobleme

Der Mann war 41 Jahre alt, als seine Autobiographie Panikherz erschien - und das Buch 564 Seiten lang. Exzessiv wie das ganze halbe Leben von Benjamin von Stuckrad-Barre. Der sogenannte Pop-Literat, Rising Star der 90er und unerträglicher Narzisst, wurde einst in der kleinen Nische, die die Popwelt für Intellektuelle bereithält, zum Idol. Später stürzte er ab: Essstörungen, Kokain, Alkohol, Leben in verlotterten, unmöblierten Wohnungen. Selbst dabei ließ er sich filmen: Wieviel Zellen auch abgestorben sein mögen, sein Narzissmus überlebte. Klinikaufenthalte folgten, einer krasser als der andere. Aber auch Stuckrad-Barre hatte seine Idole, und herausgeholfen aus dem tiefen Tal der Suchtprobleme hat ihm der Mann, der unter diesen der Größte ist: der Schwarm seiner Jugend, den er einst in seiner Funktion als Musikkritiker verriet. Herausgeholfen hat ihm Udo Lindenberg. Benjamin von Stuckrad-Barre führte scheinbar eine Existenz auf der Überholspur und tatsächlich ein Leben im Schleudergang: Er schleuderte von Crash zu Crash, von Crack zu Crack. Sein Leben passt unmöglich auf 564 Seiten. Oliver Reese hat es am Berliner Ensemble sogar auf 40 Seiten verdichtet.

Das bedeutet, Verluste in Kauf zu nehmen. Das bedeutet, Entscheidungen zu treffen bezüglich der zu setzenden Schwerpunkte - und bezüglich einer Präsentationsform. Die, die Reese gewählt hat, stieß bei vielen Rezensenten der Berliner Premiere auf Kritik. Aber Reese hat eine Entscheidung getroffen, und nur auf der Basis dieser Entscheidung sollte man über das Gelingen oder Nicht-Gelingen des Unterfangens urteilen. Die Entscheidung teilt sich bereits im Bühnenbild mit. Es besteht im Wesentlichen aus einer breiten Show-Treppe, die mit einem altmodisch anmutenden Perserteppich belegt ist und an einer kleinen, mit sündigem Rot lockenden Bar endet, die manche erfahrene Globetrotter im Hotel Château Marmont am Sunset Boulevard in Hollywood ansiedeln wollen, in dem Stuckrad-Barre einen großen Teil seiner Erinnerungen aufschrieb. Reeses Inszenierung der eigentlich doch so erschreckenden „Stuckiman“-Biographie ist: Revue. Aber sie ist auch viel mehr: Sie ist ein Blick in den Kopf des Autors. In die Wirrnis eines ehemaligen Junkies, die dieser immer wieder in kreatives Chaos umzusetzen vermochte.

Die Gefahr der Revue ist die Banalisierung. Solange unser Leben nicht aus den Fugen gerät, ist es ja ohnehin banal - nicht für denjenigen, der den Schlüssel zur Gestaltung dieses Lebens in Händen hält, aber für den Außenstehenden. Göttingen, Max-Planck-Gymnasium? Na ja. Das musikalische Erwachen des jungen Benjamin? Orchester und Schauspieler geben sich Mühe, aber es ist ein wenig langweilig. Das sexuelle Erwachen? Erstreckt sich erstmal auf in züchtigem Dress erzählte Bilder von nackten Frauen im Panikorchester. Nichts anderes also als was wir im Alter von 14, 15 Jahren selbst erlebt haben. Deutlich wird, dass sich Stuckrad-Barre schon als Jugendlicher zu wichtig genommen hat. Aber allzu originell wirkt das nicht. Irgendwann ist einmal die Rede von einem Künstler, der ständig „im Autopilot vor sich hin“ rede, ein „Gefangener seiner Kunstfigur“ - eine Beschreibung, die mehr auf Stuckrad-Barre passt als er selbst wohl wahrhaben möchte. „Geburt, Schule, Arbeit, Tod - dazwischen muss doch noch etwas anderes liegen“, meint Benny auf seinem Selbstfindungs-Trip und findet selbst die Antwort: „DAS LEBEN!“ - Adoleszenz-Roman, Musik, chronologische Erzählung - darüber hinaus muss es doch noch etwas anderes geben in dieser Aufführung? - Geduld. Die Antwort lautet: DIE SUCHT. Als das Leben prekär wird, laufen die vier Schauspieler, auf die der Text des Protagonisten aufgeteilt ist, zur Form auf. Und die Musik auch.

Stuckrad-Barre: Als Schüler schrieb er schon Musikkritiken, bald hat er bei der taz „eine eigene Durchwahl“. „Es gibt mich also“, jubiliert er - und bringt mit der witzigen Bemerkung Wahrheiten auf den Punkt, die wir uns alle nicht eingestehen mögen: Die erste eigene Durchwahl beim ersten Arbeitgeber ließ uns damals doch fast abheben, oder? Stuckrad-Barre hebt ab und fliegt noch ein Weilchen weiter: Fernsehredakteur bei Friedrich Küppersbusch, Romanautor, Gag-Schreiber von Harald Schmidt - und dann: Essstörungen: „Ich isst ein anderer.“ Es ist nicht Magersucht, sondern die schlimmere Form: Bulimie. Alle vier Schauspieler sind Stuckrad-Barre; jetzt ist es Carina Zichner, die mit brutalem Sarkasmus die Fress- und Kotzorgien des Hochbegabten beschreibt. Bettina Hoppe, die ernsthafteste, reflektierteste der Stucki-Darstellerinnen, schlüpft für einen Satz in die Rolle seines Arztes: „Mit ihrer Selbstabschaffung sind Sie ja ziemlich weit vorangekommen.“  

Es sind die ersten Stimmungsbrüche in der zu Beginn so angenehm harmlos als biederes Musiktheater daherkommenden Inszenierung. Erst erleben wir Zichners Gehopse und Gehampel, Nico Holonics‘ krankhaft narzisstische Selbstdarstellung des abstürzenden Pop-Künstlers, aufgekratzte Musik - und dann, zunächst ganz vereinzelt, solche kleinen, leisen, ins Herz treffenden Sätze. Die Inszenierung entwickelt sich zu einem immer vielseitigeren, aber bei aller Unterhaltungskunst und allem Witz auch beklemmenden Wort- und Musikkonzert, in dem die brillanten Schauspieler immer wieder Distanz zwischen sich und ihre Figur legen. Ja, die Zuschauer applaudieren ihrem, wie der SPIEGEL schreibt, „Helden, der eigentlich ‚mehr so’n Anarcho ist’“. Es ist die Gefahr eines so unterhaltsamen musikalischen Abends, eines so witzig formulierten Texts, eines so abgedrehten Schauspieler-Fests, dass nur das Entertainment wahrgenommen und der Suchtkranke als Held empfunden wird. Es wird Zuschauer geben, die über diese Oberflächenwirkung der Inszenierung nicht hinausgekommen sind. Aber sie vermittelt tiefere, bitterere Einsichten. Erschreckend sind die Ideen, auf die der Drogensüchtige verfällt, um die Wirkung des Kokains zu steigern; Laurence Rupp hält eine geradezu moralisch bewegte Rede, die vor der Drogensucht warnt; Bettina Hoppe führt den Beweis, dass der Junkie eigentlich „ein totales Spießerleben“ führt.

Die vier Schauspieler sind von exquisiter Qualität. Carina Zichner zeigt in einem beispiellosen Zappel-Solo das Durcheinander im Kopf eines Drogensüchtigen und tanzt sich wie ein Rumpelstilzchen von der Sex Machine zu Umckaloabo. Nico Holonics ist der heimliche Star der Truppe, stellt er doch vor allem die geltungssüchtigen Facetten sowohl des erfolgreichen als auch des scheiternden Stuckrad-Barre vor. Selbst wenn er seine Kolleginnen und Kollegen nur mit Mimik und Gestik begleitet, zieht er die Aufmerksamkeit und die Lacher des Publikums auf sich. Ihm gelingt die Balance zwischen bitterem Witz, Ironie und Distanz zur Figur am überzeugendsten. Dass Bettina Hoppe zu den unterschätztesten Schauspierinnen unserer Republik zählt, behauptet der Schreiber dieser Zeilen schon seit langem - nach dieser Aufführung sollte man endgültig aufhören, sie zu unterschätzen. 

Auch die Musik hat geniale Momente: Muntere Rhythmen begleiten Stuckimans Erkenntnisse: „Kokain ist die Lösung. Und zu Kokain schmeckt Bier sehr gut. Es ist eine gute Medizin gegen das Herzrasen.“ Große Ereignisse werfen ihre Schatten unter die Augen: Der erste Klinikaufenthalt folgt, und Bettina Hoppe singt Udo Lindenbergs „Gegen die Strömung“. Da die fünf Musiker (Lukas Fröhlich, Peer Neumann, Gerhard Schmitt, Tilo Weber und Manuel Zacek) zwar gut, aber alles andere als ein Panikorchester sind, verlegen sich die vier Schauspieler auf höchst eigenständige, verfremdende Interpretationen ihrer Lieder; Hoppes „Strömung“ und Holonics‘ „Was hat die Zeit mit uns gemacht“ („ein eisiger Wind weht uns nach Norden“) geraten in ihrer neuen musikalischen Version intensiver als das Original. Neben Lindenberg-Songs erkennen wir Lieder von Oasis (eher schlagerselig interpretiert), Rammstein und anderen. Anfängliche Befürchtungen, ein mäßiges Musical geboten zu bekommen, verfliegen schnell - naja, sagen wir: nach einer halben Stunde. Der Anfang ist ein bisschen lau, der Schluss dagegen gönnt sich sogar ein wenig Schmelz und rührendes Pathos. Ungewöhnlich viel Szenenapplaus hatte es gegeben. Jetzt gibt es Standing Ovations.