Kapitulation an der Ruhr
Angekündigt war eine Uraufführung, die das Potential zu einer Sensation in sich zu tragen schien. Im Jahre 1927 sollte in Essen ein avantgardistisches Theaterprojekt von Bertolt Brecht und Kurt Weill zur Uraufführung kommen, das sich mit der Arbeit, der Industriekultur und der Bevölkerung des Ruhrgebiets auseinandersetzte. Die Pläne von 1927 klingen wie ein Theaterprojekt aus dem 21. Jahrhundert und weitreichender als die kurze Zeit später zur Uraufführung gekommene „Dreigroschenoper“ oder „Der Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“: U- und E-Musik sollten ineinanderfließen; der Film-Regisseur Carl Koch sollte bewegte Bilder beisteuern und hatte bereits die Drehgenehmigung für Aufnahmen von den Essener Krupp-Werken – kurz: es sollte entstehen, was man achtzig Jahre später bei der Ruhrtriennale eine genreübergreifende „Kreation“ nennen würde. Doch bald führten antisemitische Hetze gegen Kurt Weill und Empörung über die Ernennung des kapitalismuskritischen Bertolt Brecht zum Projektleiter und Autor dazu, dass die Kulturpolitik das Projekt fallen ließ wie eine heiße Kartoffel. Viel Material zu den damaligen Plänen gibt es nicht mehr, doch sollten Albert Ostermaier und Thorleifur Örn Arnarsson das Projekt in einer Auftragsarbeit der Ruhrfestspiele Recklinghausen weiterspinnen und das Ruhr-Epos mit neunzigjähriger Verspätung aus der Taufe heben. Der Schriftsteller, Lyriker und Fußball-Dichter aus Bayern und der für bildkräftige Theaterkreationen bekannte Regisseur aus dem Land, in dem die Geysire kochen wie einst in Essen der Stahl – das schien ein spannendes Team zu werden.
Doch wo nichts ist, da lässt sich auch nichts weiterspinnen. Ostermaier-Arnarssons Versuch, ein Ruhr-Epos zu schaffen, schlug fehl. Und so thematisiert die Aufführung über weit mehr als die Hälfte des vierstündigen Abends die Kapitulation des Regie- und Autoren-Teams vor einer unerfüllbaren Auftragsarbeit. Das beginnt durchaus witzig, mit geradezu marthalereskem Humor. Ein längs in drei gleich große Teile geteilter durchsichtiger Vorhang bekommt die Namen „Brecht-Vorhang 1“, „Brecht-Vorhang 2“ und „Brecht-Vorhang 3“; davor finden sich sieben Schauspielerinnen und Schauspieler an Sprechertischen mit Leselampen ein – und zerknüllen Papier. Lange. Elend lange. Zu lange – aber ab und an reizt der Slapstick zum Lachen, ab und an entwickelt die Rat- und Rastlosigkeit der Performer eine gewisse Poesie. Brechts Ruhr-Oper-Projekt wird in den historischen Kontext des Jahres 1927 eingeordnet. Lange. Zu lange. Aber ein bisschen schwelgen wir in der Dekadenz der Goldenen Zwanziger, vermerken erstaunt, dass es das Jahr der Gründung des Quelle-Versands war und atmen den Duft der großen weiten Sportwelt: Max Schmelings Boxkämpfe, Rudolf Caracciolas Sieg beim allerersten Autorennen der Geschichte auf dem Nürburgring. Manchmal gelingt es der Aufführung, die Atmosphäre der 20er heraufzubeschwören. Man gibt die Hoffnung nicht auf, dass irgendwann aus dem Nebel der Vergangenheit die verlorene Oper in der von Arnarsson und Ostermaier imaginierten Form auftaucht.
Aber je mehr sich die Aufführung ihrem Thema nähert, desto mehr zerfasert sie in Albernheiten, Ratlosigkeiten und assoziativem Gedanken-Müll. Aljoscha Stadelmann gibt einen höchst unsympathischen Bertolt Brecht; elend lang wird aus dessen eher abtörnender und uninteressanter privater Korrespondenz zitiert. Nach langer, langer Zeit ruft BB endlich mit der Trillerpfeife zur Probe und wirkt dabei wie ein schlechter Fußball-Schiedsrichter aus der Bezirksliga. Jakob Benkhofer macht einen etwas weinerlichen Albert Ostermaier, der, wie man hört (und im Programmheft nachlesen kann), tatsächlich nicht wenig irritiert war, dass die von ihm geschriebenen Texte in der ziellosen Regie- und Ensemble-Arbeit geschreddert oder zumindest zur Unkenntlichkeit verwurstet wurden. Ein Brief von Ostermaier an den Ruhrfestspiel-Intendanten Frank Hoffmann wird verlesen, die E-Mail-Korrespondenz mit der Dramaturgie und der Bühnenbildnerin wird als Arie gesungen. Stadelmann und Benkhofer (also Brecht und Ostermaier) spielen endlos ein Geißlein-Versteck-Dich-Spiel mit der Brecht-Mütze, die zu Alarichs Tarnkappe erklärt wird; ewig lang wird die Schreibblockade von Brecht (und Ostermaier) thematisiert. Brecht sucht nach seinem Vergil, dem Mann aus den schwarzen Wäldern aus Dantes „Göttlicher Komödie“, der ihn auf den Pfad der Erkenntnis führen soll. Doch leider haben Brecht, Ostermaier und Arnarsson ihren Wegweiser durch ihre Hölle nicht gefunden: Ziellos kreist der Abend um sich selbst; nicht jeder Quatsch ist lustig, und nicht jede Assoziation, die vom breiten bildungsbürgerlichen Hintergrund des Produktions-Teams zeugt, führt zu einem kreativen Prozess.
Doch einzelne Bilder sind gelungen: vor allem die Original-Filme von rauchenden Schloten aus dem Ruhrgebiet, die zu dramatischer Wagner-Musik abgespielt werden. Oder die rasende Fahrt durch den Autobahntunnel der A 40, die zum Stichwort „Metropolis“ eingeblendet wird: Da wird ein nachvollziehbarer Bogen geschlagen vom Science Fiction der 1920er Jahre in unsere Gegenwart, in der Metropolis längst Realität geworden ist. Großartig ist das Licht-Design von Heiko Wachs, und auch die Kostümbildnerin Sunneva Ása Weisshappel durfte sich von Rokoko und Barock über Commedia dell’arte und den Glamour der 1920er Jahre bis zum bis spröden Kommunisten-Look an den Schauspielern austoben. Doch wenn der Theaterbetrieb ironisiert, die Mülheimer-Stücke-Jury auf den Krampf genommen und – durchaus gekonnt – Elfriede Jelinek parodiert wird, greift das nicht so recht: Den „Stücke“-Preis wird dieses Team niemals abräumen, und wenn „Brecht“ im Anschluss an die Jelinek-Parodie ausruft, er könne keine Postdramatik, so ist ihm aus vollem Herzen zuzustimmen.
Ca. vierzig Prozent der Zuschauer suchten in der Pause das Weite. Das ist schade, denn nun zeigt das Team, wie man die Angelegenheit hätte lösen können. Von der „verlorenen Oper“ ist nichts, aber auch gar nichts außer ein paar papierenen Verträgen übriggeblieben. Auch vom Kohlerevier wird bald nichts, aber auch gar nichts übrigbleiben. In ein paar Jahrzehnten werden sogar die Erinnerungen daran verblassen – so wie die Erinnerungen an das geplante Ruhr-Epos nach 90 Jahren abhandengekommen sind. Die Entdeckung dieser Parallelität hat das Team beflügelt: Die letzte Stunde von Arnarssons und Ostermaiers Werk wird zu einem oftmals mit Wagner- und Monteverdi-Klängen sowie (wie schon vor der Pause) Schubert-Liedern unterlegten melancholischen Requiem für das Ruhrgebiet, für den Menschenschlag dieser Region und für die Kohle-Industrie. Der – echte – Bergarbeiter Uwe Reichelt berichtet sachlich und gelassen, aber mit erkennbarem Bedauern per Video über den Aufstieg und Fall seines Berufsstands. Erinnerungsselig werden Bilder von Taubenzüchtern und Brieftauben eingespielt. Eine Prinzessin aus Hannover träumt davon, aus ihrem norddeutschen Schloss auszubüxen und bei den fleißigen Ruhrpott-Zwergen wohnen zu dürfen. Doch deren Zechen sind längst zerlegt und werden in China wiederaufgebaut - Katja Gaudard kiekst zu ihrer Schneewittchen-Story wie Sophie Rois. Später ruft Gaudard zu Renaissance-Musik Hunderte dieser oft witzigen typischen Ruhrpott-Schimpfwörtern in den Raum: „Schlickefänger“, „Furzknoten“, „Kniepsack“. Auch die geliebte Sprache des Potts, die Jürgen von Manger vor fünfzig Jahren noch so wunderbar parodieren konnte, ist vom Aussterben bedroht, und mit ihr diese einzigartigen, rauen, aber herzlichen Bezeichnungen unserer Mitmenschen. Jetzt endlich kommt auch Albert Ostermaiers lyrisch-verquaste Sprache zu ihrem Recht: Mal gesprochen, mal gesungen, erhalten seine Texte sogar Poesie.
„Wir scheitern bis zum Sieg“, heißt es gegen Ende. Das alte Ruhrgebiet, das Brecht einmal besingen wollte, ist gescheitert – aber es hatte seine große, reiche Zeit. Ob die Umgestaltung zu einem Zentrum der Kreativ- und der Dienstleistungsindustrie gelingt, ist mehr als fraglich. Gescheitert ist letztlich auch die Aufführung – trotz der ansehnlichen letzten Stunde. Noch einmal findet sie am Ende eine Metapher für ihre Ziel- und Ratlosigkeit. Während sich die übrigen Schauspieler auf der Drehbühne im Kreise drehen, ruft Brecht: „Nach vorn, nicht zurück!“. Der Blick nach vorn ist durchaus hoffnungsvoll: Bis zur Hannoveraner Premiere am 31. Januar 2019 ist noch reichlich Zeit, um den ersten Teil radikal zu kürzen und den zweiten Teil auszubauen. Dann kann das ein spannender, durchaus avantgardistischer Abend werden.