Sechsmal Trostlosigkeit
Man trifft sich auf dem Hof der Alten Farbwerke, etwa vierzig Leute. Drei Spielstätten werden wir besuchen, sechs künstlerische Arbeiten erleben, jeweils Ergebnisse eines ganz neuen theatralischen Formats.
Bevor es losgeht, bekommt jeder ein Blatt mit zwei Zitaten: den Seehofer Ausspruch vom 10.7. 2018 zur Rückführung der 69 Afghanen an seinem 69. Geburtstag und die Nachricht, dass sich einer der Migranten nach seiner Rückführung in Kabul erhängte.
Vor genau 48 Stunden erhielten sechs Tanz- und Performance-Ensembles ebenfalls diese brisant-aktuellen Texte, mit dem Auftrag, eine künstlerische Reaktion darauf zu entwickeln.
Über die Eisengitter-Außentreppe betreten wir die Halle 21 der ehemaligen Farbfabrik. Vor uns liegt ein großes Paket in durchsichtigem Cellophanpapier verpackt, oben drauf eine riesige bayrisch-blaue Schleife – womöglich ein Geburtstagsgeschenk zum Neunundsechzigsten? Dann erkennen wir: In der Verpackung kauert ein Mensch, eine junge Frau, sie beginnt sich zu bewegen. Die Geräusche des Cellophans werden dramatisch verstärkt, Knirschen, Kratzen, Schaben erfüllt den Raum. Die Frau windet sich, schiebt sich aus der Verpackung. Ganz leise mischt sich ein heller Klang in die harten Töne, vielleicht ein Hoffnungsschimmer? Der befreite Körper schlängelt sich, kämpft, zuckt, bäumt sich auf. Dumpfe Klänge, harte Rhythmen ertönen. Die Frau schlägt den Boden mit den Fäusten, reckt die Hände mit gespreizten Fingern hilfesuchend nach oben und erhebt sich schließlich zuckend - um dann doch wieder zusammenzusacken, zu Boden zu sinken.
Die Tänzerin Maura Morales bleibt reglos am Boden, während die holländische Jazzmusikerin Vera Westera zu dumpfen Tönen ihres Bassisten Dijon Nijland leise zu summen beginnt – vielleicht ein Totenlied? Doch dann wird aus der Klage ein eher vergnügliches Spiel. In buntem Sommerrock mit üppiger blauer Blume im Haar beginnt die Sängerin zu scherzen, ihren Partner zu necken – vielleicht ein Verweis aufs Geburtstagsfest? Aber die gute Laune verfliegt, Nijland greift zur Gitarre und endet in leisem Jammern.
Unter dem Dach des Gebäudes treffen wir auf einen der bekanntesten Hip-Hop-Tänzer Europas, Flockey Ocscor. Er empfängt uns mit einem melancholischen Trompeten-Solo, schlüpft in die Rolle des Afghanen und berichtet von Weißwurst und Oktoberfest, bevor er in einer Tanzeinlage eher an bayrischen Volkstanz als an Hip-Hop erinnert. Am Ende lassen wir ihn resigniert im Sessel zurück und ziehen weiter zur chinesisch-amerikanischen Improvisationskünstlerin Audrey Chen, die Stimme und Elektronik zu einem ganz eigenen Sound vereint. Es knarrt, knistert, schnarrt, quiekt, gluckst, knackt und faucht aus dem Mikrophon. Dazu wird dieser irritierende Geräuschemix begleitet und verstärkt durch Posaunen-, Trompeten- und Saxophontöne einer Norwegischen Band, die mit ihrem rauen Klang zunächst ein Scenario von Kriegslärm und Bedrohung aufbaut, das einen dann aber über die Zeit in seiner Monotonie doch eher unberührt lässt.
Im Weltkunstzimmer auf der anderen Straßenseite erwarten uns im abgedunkelten Lichtsaal die Düsseldorfer Performer Simon Hartmann und Ernesto Müller mit einer eher skurrilen Interpretation des Themas. Mit Schafsfellen auf dem Rücken räkeln sie sich auf einem ausgebreiteten Kuhfell umeinander, stöhnen, jammern. Sanftes Rotlicht leuchtet auf, bestrahlt sie und kaum verständlich hört man “Ich bin mächtig, allmächtig“. Dann beginnt einer zu zählen, kommt bis 68. Grotesk erklingt das Geburtstagslied „Viel Glück und viel Segen“. Einer schnappt nach Luft, röchelt, scheint zu verenden. Kunstnebel steigt auf, dann ducken sich die beiden Figuren zu einem Häuflein-Elend zusammen und bunte Scheinwerfer strahlen von ihnen ab. Eine Karikatur, die dem Kitsch nahe kommt.
Zum Schluss entführt uns der Klang- und Medienkünstler Frank Schulte aufs Meer. Im dunklen Raum wabert Kunstnebel, darin schwingen Lichter, die wie Boote auf Hoher See schwanken. Ein eindrucksvolles Bild. Schreie und Kreischen tönen auf, dann wird es heller und der Künstler greift nach einer metallenen Rettungsfolie, wickelt sich darin ein und verlässt den Raum. Doch noch ein Geretteter!?
Nach zwei Stunden schauen wir ermüdet und ergriffen zurück auf die höchst unterschiedlichen, durchweg kraftvoll-kreativen Reaktionen der sechs Künstlergruppen. 48 Stunden hatten sie Zeit für jeweils 20 Minuten Performance. Ein grandioses Ergebnis!