While I Was Waiting im Asphalt Festival Düsseldorf

Ein Mann im Koma – und ein paralysiertes Land

Es könnte ein einfaches Familien-Drama sein, so wie es sich überall auf den Bühnen dieser Welt ereignen könnte. Sohn Taim liegt im Koma; Mutter Amal sitzt verbittert an seinem Bett und betet; die im Ausland lebende Schwester Nada kehrt aus gegebenem Anlass widerwillig in die Familie zurück und zickt herum; Mutter und Freundin werfen einander gegenseitig vor, Taim der jeweils anderen entfremdet zu haben; der kiffende Onkel läuft ab und an mit der Klampfe durchs Bild und scheint keine andere Funktion zu haben als den einen Satz zu sagen, der in diesem Stück am meisten nachdenklich macht – und damit das Ganze halbwegs als Drama funktioniert, gibt es noch einen Freund des Opfers, der eine andere Perspektive einbringt. So weit, so well-made plot, und wenn der ähnlich uninspiriert von eher durchschnittlich begabten Schauspielern auf die Bühne gebracht wird wie beim Gastspiel von Mohammad Al Attars While I Was Waiting beim Düsseldorfer Asphalt-Festival, könnte man zur Tagesordnung übergehen und sich spannenderen Aufführungen zuwenden.

Doch Omar Abusaadas Inszenierung ist weltweit getourt. Bei der Ruhrtriennale kommt in wenigen Wochen sein drittes Stück (The Factory) heraus, das sich mit While I Was Waiting und der in Chris Dercons gescheitertem Volksbühnen-Intermezzo in Berlin uraufgeführten Iphigenie zu einer Trilogie verbinden wird. Der Wert des Stückes liegt in der Folie, auf der sich das Familienstück abspielt. Denn wir reden über ein Stück aus Syrien. Genauer gesagt: aus dem Syrien des Jahres 2015, als große Teile des Landes im Bombenhagel versanken, die Menschen flohen und die deutsche Bundeskanzlerin in einer ihrer seltenen, aber dann meist von moralischem Verantwortungsgefühl geprägten Spontan-Entscheidungen ihr „Wir schaffen das“ ausrief. Noch genauer gesagt: Wir reden über ein Stück, das von Syrern geschaffen, inszeniert und gespielt wird, aber in Europa entstand und das Heimatland der Künstler nie erreichen wird. Denn das Familiendrama ist regimekritisch:

Bei Taims „Unfall“ handelte es sich nämlich um einen Überfall: Taim wurde an einem Kontrollpunkt zusammengeschlagen. Es wird nicht aufgelöst, wer für diesen Überfall verantwortlich war. Taims Freund Omar tippt auf verfeindete Drogenbanden. Doch der Endzwanziger Taim hatte an einem Dokumentarfilm gearbeitet, der wohl nur vordergründig die Geschichte seiner Familie zum Thema hatte, de facto aber die Verhältnisse in Syrien beschreiben sollte. Bilder zeigen sein Engagement gegen das Regime; er hatte wie seine Schwester Nada das Land verlassen wollen. Es liegt also nahe, dass die Schergen Assads für das Attentat auf Taim verantwortlich waren. – Nada lebt inzwischen in Beirut – sie hat das Land mit Abertausenden von anderen Flüchtlingen verlassen und im Libanon Fuß gefasst. Omar hat beschlossen, im Land zu bleiben – aber er wurde am Arbeitsplatz festgenommen und in den berüchtigten „Roten Kerker“ eingeliefert (gemeint ist wohl das syrische Foltergefängnis Saydnaya). Dort wurde er „das, was von mir übrig blieb: ein Gespenst“. Omar (Mustafa Kur) erzählt von der Verführungskraft, die die Dschihad-Kämpfer auf ihn ausübten – und von der Erkenntnis, dass die IS-Gefängnisse originalgetreue Kopien der Assad-Kerker sind. Dokumentarische Fotos und Videos von Demos und Aufmärschen gegen den Diktator Assad werden eingespielt, aber auch von pompösen Machtdemonstrationen des Regimes aus Anlass des Begräbnisses von im Krieg gegen das eigene Volk gefallenen Helden. Mohammad Alrashi, der Taims und Nadas Onkel spielt, philosophiert über die Absurdität der aktuellen politischen Situation: von zerbombten Städten, Toten auf dem Mittelmeer, Flucht und Verzweiflung – „und die Polizei regelt unbekümmert den Verkehr.“

Bei Abusaadas Inszenierung handelt es sich also um wichtiges politisches Theater. Das Wachkoma des Patienten und das endlose Warten der Familie am Krankenbett Taims sind Metaphern für die Zustände im Land: Die Regierung liegt im Koma, Daheimgebliebene und Geflüchtete warten auf eine Besserung, die nicht in Sicht ist. Mohammad Al Attar hat sich in einem Interview dezidiert zur Funktion von Theater als einer Form von Widerstand bekannt, aber selbstverständlich kann die Inszenierung in Syrien nicht gezeigt werden. Der Rezensent der New York Times weist auf einen anderen, moralischen Konflikt hin, der dem Stück immanent ist: Die Familie, teilweise noch in Syrien lebend, teilweise ausgewandert oder geflüchtet, versammelt sich wartend und untätig am Krankenbett Taims. Der Onkel ist weitgehend inaktiv, die Schwester will so schnell wie möglich in den Libanon zurück, Freundin Salma beginnt sich zu einem anderen Mann hingezogen zu fühlen – und Taim ist in Damaskus in doppelter Hinsicht in Gefahr. Die Inszenierung stelle auch die Frage, ob es eine moralische Verpflichtung gebe, sich dieser Gefahr aus übergeordneten Gründen auszusetzen, oder ob der Mensch nicht im Gegenteil eine Verpflichtung habe, sich solcher Gefahren zu entziehen, meint Jesse Green von der NYT: „Das Leben in einer Grauzone scheint jedenfalls keine geeignete Lösung zu sein.“

Es ist schade, dass die lange Zeit ausgesprochen bieder und konventionell daherkommende Inszenierung in künstlerischer Hinsicht nicht mit dem brisanten politischen Inhalt und der komplexen gedanklichen Konstruktion mithalten kann. Auch der mit großem Hallo angekündigte syrische Live-Musiker DJ Hello Psychaleppo, der den Sound zum Stück liefert, bleibt hinter dem zurück, was wir an Theatermusik inzwischen schätzen. Merkwürdigerweise ist es ausgerechnet eine der weniger politischen Szenen, die die stärkste atmosphärische Kraft entwickelt: Zu ein paar Dias, die ihre Entwicklung vom Kleinkind über die Pubertät, die Universitätszeit bis zur späteren Auswanderung zeigen, berichtet Nada aus dem Off vom Leben und Leiden unter einer extrem konservativen Erziehung. Die Diskrepanz zwischen einem ultrakonservativen Islam und dem Freiheitsdrang der jungen Generation ist ja eine der wichtigsten Ursachen für die Unruhen in der arabischen Welt, obwohl in Syrien längst geopolitische Interessen zur Verlängerung des Konflikts beitragen. Es sind vor allem Nanda Mohammad als Taims Schwester Nada sowie Hanan Chkir als konservative, verbitterte Mutter Amal, die in der Aufführung schauspielerisch überzeugen. Die Rolle des Taim wurde seit der Premiere neu besetzt: Kinan Hmedan spielt sie routiniert, aber man hätte sich eine klarere Charakterzeichnung dieser durchaus widersprüchlichen, selbst von der eigenen Familie nicht vollständig durchschauten Figur gewünscht: Taim wurde in der Familie als planloser Kiffer verkannt, als ein Mann, der schnell aufgibt – vielleicht ist dieses Urteil zu Lasten der Ausstrahlung der Figur in Hmedans Rollengestaltung eingeflossen. - Der Rezeption der Aufführung nicht zuträglich war zudem die in Düsseldorf häufig asynchrone deutsch- und englischsprachige Untertitelung des arabischen Texts. Das in Syrien gesprochene Hocharabisch besticht im Original durch große Eleganz und vielfältige Möglichkeiten, zwischen den Zeilen zu sprechen. Beides geht naturgemäß bei einer knappen schriftlichen Simultanübersetzung verloren, und Arabisch versteht der Rezensent nun einmal nicht. So ist die Kritik am „Künstlerischen Ausdruck“ vielleicht zu relativieren.

Durch den mal konfliktären, mal verständnisvollen Austausch über die unterschiedlichen Lebensmodelle nähert sich die zerstrittene Familie einander wieder an. Salma, gespielt von der sich dezidiert westlich gebenden Reham Kassar, vertraut der Mutter ihre Befürchtung an, sich angesichts der unabsehbaren Dauer der Krankheit Taims in den jungen Yezan zu verlieben. „Schau nicht zurück“, rät die sonst so harte, konservative Amal ihrer verhinderten Schwiegertochter, und ihre Züge werden weich. Für die Familie ist der Ausblick optimistisch. Das Land bleibt vorerst im Koma.