Übrigens …

Alpenglühen im Wuppertal, Schauspielhaus

Wo die Almröserl wachsen

Wo die Almröserl wachsn und der Enzian blüaht, lebt ein alter, einsamer, blinder Mann. „Was gibt es Neues da unten?“, fragt er, denn er sieht ja nichts. Stets erhält er die gleiche Antwort: „Alle Menschen sind glücklich und leben in Frieden. Freudig gehen sie ihren Beschäftigungen nach.“ Das klingt nach Fake News.

Wer ist dieser alte Mann? Er steht, wie sich bald herauszukristallisieren scheint, in Diensten des Fremdenverkehrsamts und imitiert die Stimmen der alpenländischen Fauna. Wenn die Touristen kommen – in Marcus Lobbes‘ Inszenierung im Schauspiel Wuppertal sind das wir, die Zuschauer -, erleben sie also quasi Fake Sounds. Stefan Walz aber ist, wenn er den Blinden spielt, wirklich blind: Er trägt altmodische blickdichte Augengläser, die an irgendetwas zwischen Forscherbrille und Quax dem Bruchpiloten erinnern. Auch der Zuschauer sieht nicht viel: Schmerzhaft blenden ihn die Theaterscheinwerfer mit weißem Licht, während über die Lautsprecher eine verstörende Geschichte von einem nackten dünnen Mann erzählt wird, der sich angeblich auf der Bühne befindet. Da wird eine Theaterszene beschrieben. Die ist vermutlich ebenfalls Fake News.

Schemenhaft erkennen wir, wie Stefan Walz mit Gehhilfe ganz langsam die Stufen im Parkett heraufkraxelt – bis dahin, wo die Almröserl wachsn. Im schummrigen Licht der Bühne sehen wir ein paar Schatten. Hinter einem papierenen Vorhang agiert „der Junge“ – auch er bestenfalls als Schatten. So recht erkennen wir also: nichts. Der Blinde steht im Dunkel hinter uns, irgendwo im Parkett und hat einen beträchtlichen Redeanteil, denn Dialoge gibt es nicht viele. In der Welt der glücklichen und in Frieden lebenden Menschen und der Tierstimmenimitationen fehlt dem Blinden zu seinem Glück nur eine Frau. Wie aufs Stichwort tanzt schemenhaft ein weibliches Wesen auf der Bühne. Plötzlich erkennen wir im Spotlight: Jasmine. Sie ist die Prostituierte, die sich der Blinde bestellt hat. Doch halt: Hat er eine Prostituierte bestellt oder hat er sich nur eine Frau gewünscht? Philippine Pachl, aus dem Off als eine graue ältere Dame mit Dutt beschrieben, ist ein hübsches junges Mädchen, ein bisschen nuttig, aber weder verlebt noch alt. Sie liest aus Shakespeares Romeo und Julia – eine merkwürdige Betätigung für eine Prostituierte während der Ausübung ihres Dienstes. Aber vielleicht ist Jasmine ja auch keine Prostituierte, sondern eine Schauspielerin? Vielleicht ist sie, wie sie später einmal behaupten wird, die Sekretärin des Blindenverbands? Weiß die Alpendohle… (Oder der austriakische Bartgeier.)

Vierzig Jahre, so behauptet Stefan Walz, hat der Blinde das Haus nicht mehr verlassen. Er rekapituliert die Geschichte: Weltraumfahrt und Kriege, Vietnam und Jom Kippur. Die verschiedenen Kriege haben für den Blinden unterschiedliche Farben. Er erinnert er sich an den 1. September 1939. An Sommer, Sonne, Strand in Sorrent. An „das Wort l’amore, … welches mit rotem Lack und mit ungelenker Hand auf die halbverfallene Badehütte geschrieben worden war.“ Vom Kriegsausbruch ist nicht die Rede – nicht von „Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen“, dem Satz, an den sich vermutlich jeder erinnert, der den 1. September 1939 erlebt hat. Aber später einmal wird der Blinde sagen: „Ich war nie ein richtiger Nazi. Ich habe den Faschismus nur imitiert.“ Und er wird fortfahren: „Ich imitiere den Gang eines Blinden … Vielleicht ist meine Blindheit auch nur eine Imitation?“ – Ja, vielleicht ist Jasmine eine Schauspielerin, und der Blinde ist ihr Intendant. Irgendwann einmal versucht Jasmine, dem Blinden einen runterzuholen. Hat Peter Turrini vor 25 Jahren, als sein Alpenglühen am Burgtheater (nein: nicht von Matthias Hartmann, sondern von Claus Peymann) uraufgeführt wurde, schon die ausbeuterische Macht der Intendanten aufs Korn genommen? Die #metoo-Debatte vorweggenommen?

Ach was: Turrini hat ein „tollkühnes“ Stück geschrieben, wie Theater heute es damals bezeichnet hat, in dem nur eines sicher ist: dass nichts sicher ist. Der Zuschauer darf alles, aber er sollte nichts glauben: Im Zweifel ist alles Fake News. Singen sollte er können: Peter Wallgram als Tiroler Bergführer ist die groteske Karikatur eines Alpen-Seppls mit Trachtenhut und Lederhose. Er animiert die Zuschauer immer wieder, das Lied von den Almröserl zu singen („In die Berg‘ bin i gern / und da gfreut si mei Gmüat“). Und wissen Sie was? Nie habe ich in meinem langen Theaterleben ein Publikum so vernehmlich mitsingen gehört wie bei der „Alpenglühen“-Premiere in Wuppertal. Durch Wallgrams Waldschrat gerät Turrinis wunderbar skurriles Stück in die Nähe des absurden Theaters. Philippine Pachls Jasmine taucht als Braut auf und als Geliebte des Jungen, als Alpenmädchen mit Blumenkorb und Blumenkranz im Haar; der Junge (Martin Petschan) reißt die papierne spanische Wand von innen ein und bringt die alternativen Nachrichten aus der Welt, die uns realistischer vorkommen als das allerseitige Glück der Menschen, aber vermutlich ebenso Fake News sind: „Alles brennt.“ Auch der Hahn, das im Käfig gehaltene Lieblingstier des Jungen, wird mit Petroleum übergossen und angezündet – er verendet zischend im Wasserkübel.

Brutal? Nein, erinnern Sie sich: Wir sehen nichts. Es gibt keinen Hahn. Inzwischen hat sich das Dunkel im Wuppertaler Theater im Engelsgarten zwar gelichtet, aber nach wie vor bekommen wir die Geschichte eher erzählt als dass wir sie erleben. Marcus Lobbes hat das ohnehin rätselhafte Stück noch mehr verfremdet, indem er Turrinis ausführliche Regieanweisungen per Video erzählen lässt. Sämtliche Schauspieler des Wuppertaler Ensembles sind da filmisch im Einsatz, und die Videoten erzählen ganz ohne Alpen-Idiotie und -Verkleidung. Sie sind – ja: vielleicht einfach die Schauspieler, die mit dem Intendanten Walz (dem Blinden) und der Schauspielerin Pachl proben, vielleicht die Regieassistenten und Dramaturgen. Oder sie sind die hellsichtigeren unter den durchgeknallten Phantasiefiguren, die die Welt des Blinden bevölkern?

Für die Theatermetapher spricht, dass auch das Publikum bald auf die Bühne gebeten wird und dann durch einen Nebenausgang auf den Hof des Theaters wandert. Dort wohnen wir unter anderem der einen oder anderen Romeo und Julia-Probe bei. Philippine Pachl guckt auch mal aus dem Fenster der ersten Etage des Theaters, hinter dem sich Büro- oder Garderobenräume verbergen. Man könnte sich mit der Axt ein paar Wege durch das Gestrüpp von Turrinis Stück schlagen und versuchen, eine Logik und eine Geschichte aus dem Text zu schälen. Ob Turrini uns ein solches Rätsel gestellt hat, sei dahingestellt. Marcus Lobbes will dies jedoch fraglos verhindern. Er spielt mit der dem Menschen innewohnenden Sehnsucht nach Logik und Nachvollziehbarkeit, doch er bedient sie nicht. Er verfremdet noch mehr, und er lässt auch nur wenig spielen. Genau das macht Freude. Es gibt dem Abend eine wunderbare, schwebende Atmosphäre zwischen Dunkel und Rätsel, Absurdität und Witz – und bisweilen sogar höherem Blödsinn. „Mei Freid san die Küah“, haben wir mehrfach an diesem Abend gesungen. Die wahre Freud ist, mit welch grandioser inszenatorischer Phantasie und einfachen Mitteln ein 25 Jahre altes, fast vergessenes Stück von Grund auf neuentdeckt wurde. Die Almröserl wachsen, und es blüht das Theater.

 

 

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