Skrupellos und gut gemeint
„Wir in Europa würden nie jemanden wegen seiner religiösen Ansichten oder seiner ethischen Herkunft diskriminieren. Wir haben feinere Methoden, die anderen spüren zu lassen, dass sie weniger wert sind.“ - Dieser sarkastische Satz gehört Lina Murad, die in Omar Abusaadas und Mohammad Al Attars jüngster Inszenierung The Factory die französische Journalistin Maryam spielt. Eine E-Mail des Fabrikarbeiters Ahmad ist der Anlass für eine Recherche, in deren Folge sie den Skandal um die syrische Zementfabrik des französischen Konzerns LafargeHolcim aufdeckt. Das Unternehmen hatte im Jahre 2010 in Jalabiyeh nahe der türkischen Grenze ein Zementwerk in Betrieb genommen. Kurze Zeit später brachen die bewaffneten Konflikte in Syrien aus. Nach eigener Aussage zahlte Lafarge bis zum Jahr 2014 Schutzgelder und Wegezölle, nach manchen Berichten auch Lösegelder für entführte Mitarbeiter in Höhe von etwa fünf Millionen Euro an bewaffnete Gruppen (die Menschenrechtsorganisation Sherpa spricht sogar von 13 Millionen Euro). Zunächst profitierten davon kurdische Organisationen, später die Terrorgruppe Islamischer Staat, die im Sommer 2013 in der Region die Oberhand gewann. Erst ein Jahr später zog sich das Unternehmen zurück, nachdem der IS das Werk stürmte. Inzwischen ermitteln die französischen Justizbehörden gegen acht leitende Mitarbeiter des Konzerns sowie gegen das Unternehmen selbst wegen der Finanzierung terroristischer Aktivitäten und wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Auch die Methoden, ihre syrischen Arbeiter spüren zu lassen, dass sie weniger wert seien als die europäischen Manager, sind - jedenfalls in Al Attars Stück - weniger fein als in Europa: Als die Bevölkerung vor dem IS flieht, hat sich das Management längst in Sicherheit gebracht. Aber eine Notbesetzung von syrischen Mitarbeitern wird mit erpresserischen Mitteln gezwungen, die Betriebsbereitschaft des Werks aufrecht zu erhalten. Später erreicht sie eine E-Mail des Direktors: „Es ist nicht alles gelaufen wie es sollte. Aber wir haben erreicht, was wir wollten: zu überleben und euch rauszuholen.“ Es folgt wie eine triumphierende Fanfare: „Lafarge ist noch nicht am Ende.“
Das ist an Zynismus nicht zu überbieten. So wie der gesamte Fall Lafarge ein Musterbeispiel für aus dem Ruder laufende Gier frühkapitalistischer Denkungsart zu sein scheint. Bissane Al Charif hat dafür auf der kargen Bühne im Essener PACT Zollverein ein starkes Symbol gefunden: Wir blicken auf die abweisende, trostlose Wand der Fabrik mit zahlreichen Schusslöchern: Das Werk ist aufgrund des Bürgerkriegs kaputtgegangen, die Reputation des Konzerns aufgrund des Verhaltens der Geschäftsleitung. Düster und undurchdringlich wirkt die Wand - so wie die Fabrik im Verlauf der von vier Schauspielern erzählten Geschichte vor dem geistigen Auge des Zuschauers mehr und mehr zum Symbol einer undurchdringlichen, menschenverachtenden Macht wird, zu einem Moloch ohne Moral, den die Arbeiter als „furchteinflößende Autorität“ empfinden. Aus der Fabrikwand löst sich bald ein Halbrund, das unter anderem als Projektionsfläche für Videoeinspielungen genutzt wird. Auch das Werbevideo von Lafarge erhält in dieser Aufführung eine zynische Symbolik: Ein Dummy fährt in einem Crashtest in voller Fahrt vor die Wand.
Das Stück gibt unterschiedlichen Sichtweisen auf den Skandal eine Stimme und zeigt die Schwierigkeiten bei der Wahrheitsfindung, aber auch bei der korrekten moralischen Wertung. Auch das durchaus bedenkenswerte Verteidigungsargument des Unternehmens für die Fortsetzung der Produktion nach Ausbruch des Bürgerkriegs findet Gehör: Lafarge war der einzige Arbeitgeber in der Region und gab 300 Arbeitern und ihren Familien Lohn und Brot. Spätestens nachdem die Terrororganisation „Islamischer Staat“ ins Spiel kam, hätte dieses Argument jedoch obsolet sein müssen, und so lässt Regisseur Omar Abusaada keinen Zweifel daran, dass das Stück seines Kompagnons Mohammad Al Attar als eine einzige große Anklage gegen das Unternehmen zu verstehen ist.
Al Attar und Abusaada haben die Geschichte um das Zementwerk als dritten Teil ihrer Syrien-Trilogie zur Uraufführung gebracht. Wenige Wochen zuvor war erstmals in NRW der zwei Jahre alte erste Teil der Trilogie beim Düsseldorfer „Asphalt“-Festival zu begutachten. While I Was Waiting (theater:pur-Besprechung hier) erwies sich als eine politisch wichtige, aber künstlerisch viele Wünsche offen lassende Veranstaltung. Schauspielerisch und inszenatorisch wirkte der erste Teil der Trilogie eher bieder. In The Factory findet Abusaada einen erheblich packenderen Zugriff, obwohl es - anders als bei While I Was Waiting - kaum Spielszenen gibt. Die Aufführung setzt auf die Mittel des dokumentarischen Theaters; Inhalte und Anliegen der Inszenierung werden durch konzentrierte Erzählungen der vier charismatischen Schauspieler vermittelt. Video und Sound (der Musiker Saleh Katbeh sitzt während der gesamten Dauer der Aufführung am linken Rand der Bühne am Mischpult) werden effizienter eingesetzt und haben eine eigenständige, nicht nur illustrierende Funktion; die hochkonzentrierte, spannende Aufführung verzichtet auf jeglichen Firlefanz.
Dabei geht die Aufführung durch die Multiperspektivität durchaus ein Risiko ein, sind doch zumindest zwei der vier Figuren schwer zu fassen. Mit undurchsichtiger Souveränität gibt Ramzi Choukair den syrischen Wirtschafts-Tycoon Dr. Firas, Sohn eines mächtigen Generals der syrischen Armee, der ihm die Türen zur Geschäftswelt und zum syrischen Polit-Establishment öffnete. Angeblich war er zeitweise mit einem Anteil von 2 % an dem Zementwerk von Lafarge beteiligt. Firas stand dem Assad-Regime nahe, behauptet jedoch, sich mehr und mehr kritisch zu dessen Politik positioniert zu haben. Nach Konfiszierung seines Vermögens und Verhängung der Todesstrafe verließ er das Land und trat als Oppositioneller im Fernsehen auf; er unterhält Kontakte zur CIA. Inwieweit sein Einfluss auf die unternehmerischen Entscheidungen von Lafarge in Syrien anhielt, bleibt im Unklaren.
Jedenfalls hat er vorgeblich den Kontakt zu Dr. Amr abgebrochen, einem syrisch-kanadischen Geschäftsmann, der ebenfalls für Lafarge in Syrien gearbeitet hat und später in der Türkei eine Beratungsgesellschaft gründete, die, wie Maryams Recherche ergibt, dem Werk gegen fürstliche Bezahlung vermutlich geholfen hat, Schutzgelder an den Islamischen Staat zu transferieren. Saad Al Ghefari gibt den Jungunternehmer als eitlen Lackaffen und skrupellose Ich-AG. Ab und an verrutscht Al Ghefari seine Figur allzu sehr in eine Karikatur des Bösen, obwohl auch seine Rolle und seine Motivation interpretierbar bleibt. Es ist dieses Widersprüchliche der Figuren, es sind die Zweifel, die den Zuschauer im Hinblick auf die moralische Bewertung ihres Tuns befallen, die das Stück spannend machen - und die zumindest ein ungefähres Gefühl für den Zustand des politischen und gesellschaftlichen Handelns in Syrien vermitteln. Eindeutig festzulegen ist nur der Sympathieträger im Stück, der Whistleblower und engagierte Arbeiter Ahmad. Die Umsicht und Intelligenz, die Mustafa Kur seiner Figur verleiht, mag für einen Zementarbeiter, auch wenn dieser in der Hierarchie schnell aufgestiegen ist, nicht allzu realistisch sein, doch wird Ahmad als Betroffener zur möglichen Identifikationsfigur der Aufführung.
Diese wartet nach der Aufarbeitung des Skandals aus den unterschiedlichen Perspektiven noch mit einem kürzeren zweiten Teil auf. Beleuchtete Arbeiterhelme, die auf dem Bühnenboden drapiert werden, sorgen für eine kontemplativere Stimmung, erinnern vielleicht auch an Grablichter. Berichtet wird vom Nachleben der Figuren im Anschluss an die Aufdeckung des Skandals. Maryam bedrängt die von ihr selbst aufgedeckte Geschichte bis zur Erstickung. Firas wird mit anonymen Videos in Angst und Schrecken versetzt. Amr erhält Morddrohungen. Und Ahmad erzählt die eingangs zitierte Geschichte von der zynischen E-Mail der Geschäftsleitung, die sich längst in Sicherheit gebracht hatte. Die Menschen werden von dem unbarmherzigen Geschehen erdrückt. Das Unternehmen aber, die „furchteinflößende Autorität“, überlebt, gleich unter welchen politischen Bedingungen und unter welchem Regime. Insofern äußert die Inszenierung mit der Aufarbeitung eines ganz konkreten Polit-Skandals auch eine generelle Kapitalismuskritik. Betrachtet man das Gebaren in sich sozialistisch nennenden Systemen, hat menschenverachtendes Verhalten von Mächtigen allerdings nichts mit politischen Systemen zu tun…